Zu wenig barrierefreie Arztpraxen, zu wenig Behandlungszentren für Menschen mit Behinderung – eine inklusive Gesundheitsversorgung ist ein Versprechen, das nach wie vor nicht eingelöst ist. forum hat bei Verena Bentele, Präsidentin des größten deutschen Sozialverbands, dem VdK, nachgefragt, was sie von der neuen Bundesregierung erwartet.
Ihr Nachfolger als Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, Jürgen Dusel, schätzt, dass drei Viertel der Arztpraxen in Deutschland nicht barrierefrei sind. Überrascht Sie diese hohe Zahl?
Nein, diese Zahl überrascht mich nicht. Auch wir beim VdK hören immer wieder von fehlender Barrierefreiheit in Arztpraxen. In einigen Bundesländern sind beispielsweise nur knapp ein Drittel aller Gesundheitseinrichtungen ebenerdig zugänglich. Dies schränkt Millionen ältere Menschen und Menschen mit Behinderung bei der freien Arztwahl und bei Therapiemöglichkeiten ein.
Gibt es Fachrichtungen, in denen das Problem besonders gravierend ist?
In ganz Deutschland gibt es kaum gynäkologische Praxen, die wirklich barrierefrei für Rollstuhlnutzerinnen zugänglich sind. Damit sich Frauen im Rollstuhl frei bewegen können, braucht es ausreichend Platz in den Praxisräumen. Ein Stück weit wird das zwar durch barrierefreie Sprechstunden an einigen Kliniken oder Spezialambulanzen ausgeglichen – aber das ist eher die Ausnahme als die Regel. Besonders in ländlichen Regionen ist das ein großes Problem.
Auch wenn es sie gibt, sind sie oft nicht leicht zu finden. Was würde die Suche erleichtern?
Seit Juli letzten Jahres gibt es eine neue Richtlinie, die Arztpraxen verpflichtet, umfassende Informationen zur Barrierefreiheit anzugeben. Über 70 Kriterien sind dabei unterschiedlichen Arten von Behinderungen zugeordnet: Sehbeeinträchtigung und Blindheit, Hörbeeinträchtigung und Gehörlosigkeit, Mobilitätseinschränkungen und kognitive Beeinträchtigungen. Das ist ein großer Erfolg, dem lange Beratungen im Deutschen Behindertenrat vorausgegangen sind.
Also gibt es auch Fortschritte.
Mit einer kleinen Einschränkung. Die technische Umsetzung, also die Online-Arztsuche, liegt in den Händen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und ist gelinde gesagt noch eine Herausforderung. Es wäre wichtig gewesen, den Praxen einen Stichtag für die Erfassung der Daten vorzugeben. Das ist leider nicht geschehen. Trotzdem: Diese Onlinesuche wird – wenn sie denn umgesetzt ist – ein wichtiger erster Schritt für die Patienten sein, um wenigstens Informationen zur Barrierefreiheit der Arztpraxen zu bekommen. Der nächste Schritt wäre, dass die Kriterien in der Richtlinie verpflichtend werden. Das wäre dann ein Meilenstein für eine inklusive Gesundheitsversorgung.
Brauchen wir grundsätzlich eine gesetzliche Regelung, die die Praxen auf Mindeststandards zur Barrierefreiheit verpflichtet?
Auf jeden Fall. Laut Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD sollen zwar bis 2035 alle Bundesbauten barrierefrei sein, aber die Barrierefreiheit darf nicht bei Bundesgebäuden enden. Das Leben findet in Restaurants, Arztpraxen, Theatern und Verkehrsmitteln statt. Genau dort muss Barrierefreiheit selbstverständlich sein. Doch bisher setzt man in der Privatwirtschaft oft nur auf Freiwilligkeit. Eine Verpflichtung zur Barrierefreiheit muss endlich her.
Das Leben findet in Restaurants, Arztpraxen, Theatern und Verkehrsmitteln statt. Genau dort muss Barrierefreiheit selbstverständlich sein.
Der Präsident der Bundesärztekammer fordert mehr Medizinische Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger oder schwerer Mehrfachbehinderung (MZEB). Die Versorgung sei mangelhaft.
Grundsätzlich teile ich diese Meinung. Leider gibt es in Deutschland nach wie vor viel zu wenige solcher Zentren. Seit ihrer Einführung im Jahr 2015 hat die Zahl nur langsam zugenommen. Und in einigen Bundesländern gibt es noch nicht mal ein einziges. Die Versorgung ist also sehr ungleich verteilt. Ein großes Hindernis ist, dass die Antragsverfahren für die Zulassung neuer Zentren oft langwierig und bürokratisch sind. Zusätzlich gibt es vonseiten der Krankenkassen und Zulassungsausschüsse oft Einschränkungen wie Fallzahlbegrenzungen oder sogar den Ausschluss bestimmter Patientengruppen. Das entspricht nicht dem eigentlichen gesetzlichen Auftrag der Zentren. Das muss sich ändern, wenn wir die Versorgungslücke wirklich schließen wollen.
Was halten Sie von der Forderung nach einer Facharzt-Zusatzbezeichnung ›Medizin für Menschen mit Behinderungen‹?
Es gibt ein Für und Wider bei dieser Frage: Vorteile wären z. B. eine bessere Versorgungskompetenz, weniger Fehldiagnosen und eine gezieltere Behandlung. Außerdem fördert eine Zusatzbezeichnung meist auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung und die Entwicklung von Standards. Aber gleichzeitig besteht die Gefahr, dass Menschen mit Behinderungen als Sonderfall behandelt werden, anstatt wirklich inklusiv in der Regelversorgung zu sein.
Was schlagen Sie vor?
Ich persönlich finde eine Zusatzbezeichnung wie ›behinderungssensible Behandlung‹ sinnvoll. Es gibt bereits ein entsprechendes Curriculum der Bundesärztekammer. Die Inhalte sind überzeugend und ich denke, wir sollten eher den Ausbau solcher Qualifikationen fördern.
Wie sieht es in der Pflege aus? Werden in der Ausbildung die besonderen Bedarfe von Behinderten ausreichend berücksichtigt?
Es ist einfach entscheidend, dass das gesamte medizinische Personal weiß, wie man auf die besonderen Bedürfnisse dieser Gruppen eingehen kann. Deshalb sollten diese Themen in der Aus- und Fortbildung stärker berücksichtigt werden. Das ist eine der wesentlichen Forderungen des VdK.
Das Bundesgesundheitsministerium hat Ende 2024 einen Aktionsplan für eine inklusive Gesundheitsversorgung vorgelegt. Das öffentliche Beteiligungsverfahren mit mehr als hundert Verbänden dauerte ein Jahr. Waren Sie mit dem Ablauf zufrieden?
Ja, wir als VdK waren in das Verfahren eingebunden und haben uns aktiv eingebracht – unter anderem auch in unserer damaligen Rolle als koordinierende Organisation des Deutschen Behindertenrats. Es war gut und wichtig, dass so viele Verbände beteiligt wurden und es einen breiten Austausch gab.
Welche Forderung aus dem Aktionsplan stimmt Sie besonders optimistisch?
Besonders positiv finde ich, dass inzwischen barrierefreie Informationen zu Impfungen bereitgestellt werden. Das ist ein wichtiger Schritt. Auch die angekündigte Maßnahme, im Krisen- und Katastrophenfall barrierefreie Informationen für Menschen mit Behinderungen bereitzustellen, ist sehr gut. Es muss sichergestellt sein, dass alle behördlichen Informationen von Bund und Ländern im Krisenfall zeitgleich auch in barrierefreier Form, also z. B. in Gebärdensprache, Brailleschrift, Einfacher und Leichter Sprache, zur Verfügung stehen – und zwar schnell auffindbar und ohne Hürden.
Gibt es für Sie auch kritische Punkte in dem Aktionsplan?
Ja. Viele dieser Maßnahmen bleiben bislang eher langfristig gedacht, ohne konkreten Zeitplan. Es fehlen kurz- und mittelfristige Lösungen. Oft sind die Vorgaben nicht weitreichend genug. Wir brauchen deutlich mehr Verbindlichkeit und Tempo. Wir hätten uns einen klaren Maßnahmenkatalog gewünscht – mit konkretem Zeitplan, mit messbaren Zielen und einer systematischen Evaluation.
Haben Sie den Eindruck, dass der gegenseitige Respekt und die Hilfsbereitschaft für Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft zugenommen hat?
Eine Umfrage im Auftrag der Malteser zum sozialen Engagement der Menschen in Deutschland hat erst vor wenigen Monaten gezeigt, dass nicht nur der Wunsch nach mehr Miteinander und gegenseitiger Hilfe groß, sondern dass auch die tatsächliche Hilfsbereitschaft hoch ist. Das ist eine gute Nachricht für uns alle. Ich lebe lieber in einem Land, in dem viele aufeinander Rücksicht nehmen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Dass ein System, das kranken und pflegebedürftigen Menschen helfen soll, auch tatsächlich auf deren Bedürfnisse ausgerichtet ist.