Digitale Perspektiven für die Pflege

Von Christian Beneker Lesezeit 4 Minuten
Symbolbild: Ärztin kommt aus einem Handy hervor und ist so halb virtuell, halb real.

In der Pflege der Zukunft könnten digitalisierte Abläufe und künstliche Intelligenz Pflegekräften dabei helfen, mehr Zeit für die Pflegebedürftigen zu haben. Aber der Weg zur KI in der Pflege ist noch weit.

›Brave New World‹ rund um die Pflege? Die Pflegebegutachtung könnte bald auch online geschehen statt ausschließlich beim Hausbesuch – die Digitalisierung macht es möglich. Die Dokumentation in der Pflege könnte bald per Spracherkennungssoftware erleichtert werden – Zettelwirtschaft, ade. Speziell trainierte Algorithmen könnten früher als das menschliche Auge die Gefahr eines Dekubitus erkennen. Winzige Flüssigkeitssensoren können die Temperatur der Verbände eines diabetischen Fußes messen und sie über eine Smartwatch an die Pflegenden weiterleiten. Und eigens trainierte KI-Programme könnten den Pflegekräften dann helfen, jene Datenflut zu zähmen, die KI und Co. pausenlos produzieren.

Das Problem liegt auf der Hand: In den kommenden zehn Jahren werden in Deutschland so viele Menschen gepflegt werden müssen wie nie zuvor. Derzeit sind es nach Angaben des statistischen Bundesamtes (Destatis) rund 5,7 Mio. Pflegebedürftige. Bis 2055 könnte die Zahl der Pflegebedürftigen allein durch die Alterung sogar bei 6,8 Mio. liegen. Bis 2049 werden an die 280.000 zusätzliche Pflegekräfte benötigt.

5,7 Mio. Menschen müssen gepflegt werden

Der Medizinische Dienst muss sich also auf deutlich mehr Pflegebegutachtungen einstellen. Die Gutachterinnen und Gutachter des Medizinischen Dienstes machen schon heute mehr als 3 Mio. Begutachtungen jedes Jahr«, um im Auftrag der Kranken- und Pflegekassen den Pflegegrad eines Versicherten festzustellen, weiß Dr. PH Matthias Meinck, stellvertretender Leiter des Kompetenzzentrums Geriatrie (KCG).

Nun haben der Medizinische Dienst Bund, das Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP) der Universität Bremen und das Kompetenzzentrum Geriatrie (KCG) eine Studie gestartet. Sie soll erproben, ob und wann die Pflegebegutachtung auch online vorgenommen werden kann, per Videokonferenz sozusagen. Der Name des Projekts: Videobasierte Begutachtung der Pflegebedürftigkeit (ViBePflege). Geleitet wird die Studie von Prof. Dr. Karin Wolf-Ostermann vom Bremer IPP. ViBe-Pflege vergleicht die Güte der Begutachtung beim klassischen Hausbesuch vor Ort mit einer Videobegutachtung. Videosprechstunden mit dem Hausarzt oder Therapiesitzungen mit der Psychotherapeutin zeigen längst, dass die Technik bei passsenden Rahmenbedingungen funktioniert. Aber der Anwendungsrahmen Pflegebegutachtung ist neu.

Pflegebegutachtung online

Nach Abschluss der Begutachtungen folgt noch in diesem Jahr eine Online-Befragung: Wie hoch ist der Zeitaufwand, die Akzeptanz, die Reliabilität, also die Stabilität der Messergebnisse? Aus den Studiendaten wollen die Forschenden 2026 schließlich ein Anforderungsprofil für die regelhafte Anwendung der videobasierten Begutachtung schmieden. »Wenn nur 5% der Begutachtungen online geschehen könnten, wäre dies schon ein großer Gewinn«, resümiert Meinck.

Das Potenzial ist enorm.

Einen Fortschritt bei der online gestützten Pflege verspricht sich auch das Projekt ›KI-Cockpit‹ im Dortmunder Pflegeheim der Caritas, St. Antonius. Konkret: »Das Personal wünscht sich Entlastung bei den pflegefremden Tätigkeiten, z. B. bei der Dokumentation, bei den Essens- oder Lagerbestellungen«, berichtet Dr. Andrea Sell von der Hochschule Aalen. Die Wissenschaftlerin betreute das inzwischen beendete Projekt. Digitalisiert werden sollte auch die Aufgabenliste, die bisher mit einem Steckkartensystem geführt wurde. Inzwischen erledigt dies ein großes Dashboard im Schwesternzimmer. Es verzeichnet, wer heute welche Aufgaben erledigt. So erinnert das Gerät die Pflegekräfte zum Beispiel an die Trinkprotokolle der Bewohnerinnen und Bewohner. Hinzu kam ein Spracherkennungssystem. Damit können die Pflegenden auf eigene Notizen verzichten und per Handy eine Nachricht (›Frau Müller ist gestürzt‹) ans Dashboard schicken. »Wir haben durch das System eine bessere Übersicht und Arbeitsorganisation gewonnen«, sagt Sell.

Die Projekte aus Bremen und Dortmund haben die Stufe von der Digitalisierung hin zur KI in der Pflege noch nicht erklommen. Anders ein Projekt zur Versorgung von Patientinnen und Patienten mit diabetischem Fußsyndrom (DFS). Es soll die Pflege entlasten und die Versorgung beschleunigen. Das Potenzial ist enorm: Acht Millionen Menschen in Deutschland leben mit Diabetes und der Gefahr, am DFS zu erkranken. »Rund 50.000 Amputationen im Jahr sind auf das DFS zurückzuführen«, sagt Prof. Dr. Hubert Otten von der Hochschule Niederrhein.

KI überwacht die Wundheilung

Die Lösung, die im Projekt entwickelt wurde, besteht aus Sensoren, die Druck, Temperatur und Feuchtigkeit direkt an der Wunde messen und diese Daten in intelligenter Weise verarbeiten: »Die Messwerte werden via Bluetooth an eine Smartwatch übertragen und von da aus weiter über ein beliebiges Mobilfunknetz an die Pflege sowie alle diejenigen, die in den Behandlungsprozess involviert sind«, so Otten. Ein KI-basiertes Kamera-Tool, das die Wunden bei DFS automatisch vermisst, und feststellen kann, wie schnell sie sich schließt, ergänzt die Messungen. Aus den Bilddaten generiert die KI eine Prognose der Wundheilung und erleichtert so die nächsten Schritte der Behandlung.

Allerdings ist nicht alles Gold, was glänzt. Oft fehlt es in den Pflegeheimen an den technischen Voraussetzungen für digitale Dienste oder gar KI-Anwendungen. Andrea Sell z.B. sagt: »Wir haben jetzt zwar eine bessere Arbeitsübersicht. Aber eine digitale Schnittstelle zum Dokumentationssystem fehlt uns weiterhin.«


3 Fragen an Prof. Dr. Karin Wolf-Ostermann, Professorin für Pflegewissenschaftliche Versorgungsforschung an der Universität Bremen

Anwendungen der KI halten Einzug in die medizinische und pflegerische Arbeit. Wird die Pflegebegutachtung eines Tages durch einen Chatbot erledigt, also zu einer Mensch-Maschine-Kommunikation werden?

Derzeit werden KI-gestützte Systeme als unterstützende Hilfsmittel unter strengen rechtlichen und ethischen Rahmenbedingungen in bestimmten pflegerischen Bereichen genutzt, wie etwa Sprachassistenz bei Dokumentationen, Bilddiagnostik oder z. B. Sturzmonitoring. Bei Pflegebegutachtungen werden derzeit videogestützte Verfahren erprobt. Eine Unterstützung von Pflegebegutachtungen durch KI-basierte Systeme ist in Zukunft in bestimmten Bereichen vorstellbar, doch eine reine Mensch-Maschine-Kommunikation ist nicht realistisch. Der Mensch bleibt unverzichtbar – insbesondere wegen Empathie, Verantwortung und ethischer Abwägung.

Wird mehr KI tatsächlich die Pflegekräfte entlasten? Oder werden die neuen Freiräume nur durch neue Aufgaben gefüllt?

Mehr KI kann Pflegekräfte entlasten, aber das passiert nicht automatisch. Ohne gute Rahmenbedingungen – gesetzliche wie organisatorische in den Einrichtungen – werden die Freiräume gegebenenfalls nur durch neue Aufgaben ›aufgefüllt‹. Es braucht eine kluge Gestaltung, z. B. klare Entlastungsziele, technische Schulung, aber auch vorbereitende Kompetenzerweiterung bei Pflegefachpersonen etc., damit KI tatsächlich die Pflege menschlicher machen kann, weil mehr Zeit für Zuwendung entsteht.

Prof. Dr. Karin Wolf-Ostermann
© Prof. Dr. Karin Wolf-Ostermann

Wird durch den Einsatz von Digitalisierung und KI die Beziehung zwischen Pflegenden und Gepflegten nicht völlig technisiert und dadurch noch mehr entfremdet?

Die entscheidende Frage ist nicht, ob KI eingesetzt wird, sondern wie: KI ist ein Werkzeug – sie sollte Pflegepersonen unterstützen, nicht ersetzen. Entscheidend ist, dass der Mensch im Zentrum bleibt, da Empathie, Beziehung und Vertrauen nicht digitalisiert werden können. Dies bedeutet, dass wir den Einsatz digitaler Technologien bewusst gestalten müssen, um Entlastung für Pflegende zu schaffen und gleichzeitig Pflegebeziehungen nicht zu technisieren.

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