Endlich allein

Von Diana Arnold Lesezeit 4 Minuten
Symbolbild: Frau mit Kind paddelt. Das Kind ist fast transparent und scheint zu verschwinden.

Glaubt man Politik und Medien, greift Einsamkeit als große Bedrohung um sich, die bekämpft werden muss. Dabei ist sie doch vor allem ein ambivalentes Gefühl, das alle Menschen gelegentlich erleben und das gar nicht immer vermieden werden kann. Bietet das Alleinsein womöglich sogar Chancen?

Als Anna M. ihr zweites Kind zum ersten Mal in die Krippe bringt, fällt ihr schlagartig auf, dass sie seit Jahren an keinem einzigen Tag allein war. Immer krabbelte ein Kind auf ihr herum oder rief nach ihr oder sie versuchte die wenig verbliebene kinderfreie Zeit ihrem Partner und anderen Beziehungen zu widmen. Eine große Sehnsucht bricht sich plötzlich Bahn: Anna möchte mal wieder ganz für sich sein. „Ich bin eigentlich immer auf meine Familie oder meine Arbeit konzentriert. Und dadurch fühlt es sich an, als wäre ich die ganze Zeit irgendwie davon abgelenkt, was mir eigentlich guttut.“

Im Internet lassen sich schnell viele Angebote für „Freiwillig-Einsame“ finden: vom Schweige-Retreat im Kloster über Achtsamkeitsseminare bis hin zur organisierten Selbstfindungsreise. Einsamkeit als Trend? Anna entscheidet sich gegen ein festes Konzept, nimmt sich stattdessen ein einfaches Zimmer in einem kleinen Haus am Meer. Während sich das einsame Wochenende für sie als verlockender Kurzurlaub anbahnt, droht ihrem Nachbar eine triste Adventszeit: Seine Frau ist kürzlich verstorben, Kinder und Enkelkinder wohnen zwei Stunden entfernt und er fährt nur noch ungern lange Auto.

Zustand und Gefühl: einsam oder allein?

Seit der Corona-Pandemie häufen sich die Negativ-Schlagzeilen: „Einsamkeit – die Volkskrankheit der Zukunft?“ oder „Einsamkeit ist tödlicher als Rauchen und Übergewicht“.

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) reagierte in der Vorweihnachtszeit 2023 mit einer „sogar die Strategie gegen Einsamkeit“. Dazu gehört unter anderem das sogenannte Einsamkeitsbarometer, für das das interdisziplinäre Kompetenznetz Einsamkeit (KNE) Daten zu und Ursachen von Einsamkeit analysiert, aber auch konkrete Maßnahmen ermittelt. Einsamkeit soll damit in den Fokus gerückt und von Scham befreit werden. Dahinter steckt die Auffassung, Einsamkeit sei eine Bedrohung und müsse bekämpft werden.

Dabei muss unterschieden werden zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Einsamkeit. Letztere wird vom KNE gerade nicht als Zustand des Alleinseins beschrieben, sondern als „ein subjektives Gefühl, bei dem die eigenen sozialen Beziehungen nicht den persönlichen Wünschen und Bedürfnissen entsprechen.“ Dem widerspricht nicht, dass jemand, der wie alle Menschen schon mal Einsamkeit erlebt hat, gelegentlich das Bedürfnis nach Alleinsein verspürt.

Anna hat den familiären und finanziellen Rückhalt, sich ein Wochenende Ich-Urlaub zu gönnen und genießt damit Privilegien, die ihrem Nachbarn nicht vergönnt sind.  

Ist Einsamkeit gesundheitsschädlich?

Die Sehnsucht nach sozialer Interaktion wird vom vielzitierten Neurowissenschaftler und Einsamkeitsforscher John Cacioppo mit einem Hungergefühl verglichen. Zahlreiche Studien zeigen auf, dass mit unfreiwilliger Einsamkeit auch gesundheitlichen Risiken einhergehen. So weisen beispielsweise Menschen, die sich einsam fühlen, höhere Werte des Stresshormons Cortisol auf, was wiederum mit Herzkreislauferkrankungen assoziiert wird.

Einsamkeit ist eine ambivalente Erfahrung, die zwischen den Extremen der stillen Verzweiflung und dem freien Aufatmen schwingt.

Durch solche durchaus dramatischen Zusammenhänge geraten positive Effekte des freiwilligen Alleinseins in den Hintergrund. Und doch beschreiben insbesondere Schriftsteller, Philosophinnen und Künstler eindrücklich die Notwendigkeit, aber auch die Freude daran, im Alleinsein auf sich selbst zu treffen und daraus produktiv zu werden. „Einsamkeit ist eine ambivalente Erfahrung, die zwischen den Extremen der stillen Verzweiflung und dem freien Aufatmen schwingt: Zeiten der Einsamkeit können grausam lang sein oder viel zu kurz. Sie können einengen und einem die Luft abschnüren oder neue Räume eröffnen,“ erklärt Prof. Dr. Barbara Schellhammer, Philosophin an der Hochschule für Philosophie München.

Entspannt statt euphorisch: Wie wirkt sich Alleinsein auf das Wohlbefinden aus?

In den Gemälden des Künstlers Caspar David Friedrich, vor allem in Der Mönch am Meer, wird gerade diese Ambivalenz sichtbar: Die Einsamkeit erscheint hier als Blick aufs übergroße dunkle Meer – bedrohlich und schön zugleich für denjenigen, der es wagt sich ihr auszusetzen.

Dieser Effekt wird auch in der Psychologie untersucht. So trugen insbesondere die Psychologen Christopher R. Long und James R. Averill Forschungsergebnisse zur Einsamkeit zusammen und systematisierten darin auch deren positive Auswirkungen. Sie bestätigten, dass ein Rückzug helfen könne, sich emotional zu regulieren, sich zu erholen und in der Folge besser mit Stress umzugehen. Darüber hinaus werde ein Raum für Selbstreflexion geschaffen, der es erlaubt, eigene Bedürfnisse frei von sozialer Bewertung wahrzunehmen. Alleinsein bedeutet laut Averill und Long also auch, sich nicht ständig mit den Augen anderer zu sehen.

Was nach vielversprechenden Vorteilen klingt, erfordert aber auch eine Auseinandersetzung mit sich selbst, die Unbehagen hervorrufen und gelegentlich sogar schmerzhaft sein kann. „Alleinsein,“ so Schellhammer, „bedeutet, sich selbst aushalten zu können, mit sich im Dialog stehen, auch mit dem Fremdem im Selbst.“ Diese Ambivalenz zu verstehen, kann auch helfen, die Vielzahl an vermeintlich widersprüchlichen Forschungsergebnissen in Einklang zu bringen.

Die Anzahl der sozialen Kontakte ist weniger von Bedeutung als deren Qualität.

So führte 2017 eine Forschergruppe um die Psychologin Dr. Thuy-vy T. Nguyen mehrere Studien durch, die zeigten, dass Alleinsein starke Emotionen generell schwächte – also sowohl die euphorischen Höhepunkte wie auch deprimierende Tiefpunkte – und so zu Entspannung und emotionaler Regulation beitrug. Wenig überraschend sind auch weitere Studien, die darauf hindeuten, dass Menschen eine individuelle Balance aus positivem Alleinsein und gesunden Beziehungen benötigen, um sozial eingebunden und ausgeglichen zu fühlen. Dabei sei die Anzahl der sozialen Kontakte weniger von Bedeutung als vielmehr deren Qualität.

Doch das ewige Zählen von sozialen Kontakten und „Likes“ im Kontext von Social Media und die Überbetonung positiver Lebensereignisse erzeugen gerade unter Jugendlichen oft Einsamkeitsgefühle. Dabei bestätigt eine britisch-amerikanische Langzeitstudie, dass besonders Menschen, die in jungen Jahren wenige, aber intensive Freundschaften pflegten, später seltener unter Depressionen litten als solche mit großen Netzwerken.

Ursachen sozialer Isolation bekämpfen

Wer Einsamkeit ausschließlich als große Gefahr ansieht, verliert aus dem Blick, dass sie auch eine Chance ist. „Nur derjenige, der mit sich allein sein kann, kann auch anderen offen begegnen und nur diejenige, die gesunde Beziehungen lebt, kann auch die Einsamkeit als Kraft- und Inspirationsquelle für sich nutzen“, fasst Schellhammer zusammen. Die Auseinandersetzung mit sich selbst ist also der Grundstein dafür, um mit anderen Menschen in Beziehung zu treten. Doch was ist mit denjenigen, die das Alleinsein nicht nach Belieben beenden können? Kann die Politik ihnen aus ihrer unerwünschten Einsamkeit helfen?

Für diese Frage sei es wichtig, zwischen dem privaten Gefühl der Einsamkeit und strukturell bedingter sozialer Isolation zu unterscheiden, erläutert Jakob Simmank, Autor des Buches Einsamkeit: Warum wir aus einem Gefühl keine Krankheit machen sollten. Eine Regierung solle demnach ganz sicher nicht den privaten Gefühlshaushalt ihrer Bürgerinnen und Bürger regulieren. Politik und Gesellschaft sollten sich aber durchaus moralisch verpflichtet fühlen, etwas gegen soziale Isolation und deren Ursachen zu tun. Das fängt bei Armutsbekämpfung an – Armut ist einer der Hauptrisikofaktoren für soziale Isolation – und hört bei der Infrastruktur, zum Beispiel Busverbindungen in abgelegene Orte, noch lange nicht auf.

Dass das Thema gerade erst Fahrt aufnimmt, zeigen verschiedene Aktionen und Publikationen, so zum Beispiel der Aktionsplan der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen oder die Einsamkeitsstudie der TK. Damit erhält das Problem die Aufmerksamkeit, die es benötigt. Offen bleibt, ob so auch die Ursachen von sozialer Isolation nachhaltig angegangen werden.

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