Wenn gesundheitliche Probleme und körperliche Einschränkungen im Alter zunehmen und soziale Kontakte abnehmen, steigt das Risiko, sich einsam zu fühlen. Sind ältere Menschen einsamer als jüngere? Welche Auswirkungen hatte die Corona-Pandemie?
Einsamkeit war nie ein Thema für Luise. Die 86-Jährige, die seit Jahren allein in ihrer kleinen Wohnung am Rande der Kölner Innenstadt lebt, war viel unterwegs – sie besuchte Freunde, ging in die Oper, in den Park. Dann kam die Pandemie, und plötzlich war alles anders: Luise ließ nach, sie stürzte mehrfach, musste wiederholt ins Krankenhaus und erholte sich mehr schlecht als recht. Heute kann sie ihren Alltag nur mit Hilfe eines Pflegedienstes bewältigen, sie sitzt im Rollstuhl und kommt kaum noch aus ihrer Wohnung. Luise leidet – die Kräfte schwinden, sie fühlt sich zunehmend einsam.
»Drei enge Freundinnen sind in den vergangenen vier Jahren gestorben, andere sind im Pflegeheim, und die Kinder – die haben ja ihr eigenes Leben – über 500 Kilometer weit weg«, erzählt sie traurig.
Vor und nach der Pandemie
Luises Geschichte ist kein Einzelfall: Dass ältere und pflegebedürftige Menschen während der Pandemie nicht nur mit dem erhöhten Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs, sondern auch mit drastischen Kontaktbeschränkungen und Besuchsverboten in Pflegeheimen leben mussten, die sozialer Isolation und Vereinsamung Vorschub leisteten, gehört zur traurigen Wahrheit. Soziale Isolation und Einsamkeit wiederum erhöhen die Inzidenz vieler chronischer Erkrankungen im Alter und verschlechtern deren Prognose, wissen Fachleute. Bereits kurze Phasen sozialer Isolation könnten den Gesundheitszustand alter Menschen verschlechtern, vor allem wenn die Betroffenen multimorbid seien und keine ausreichenden sozialen Netzwerke hätten.
Ein hohes Lebensalter allein bedeutet nicht zwangsläufig eine größere Einsamkeitsbelastung; das zeigen auch Statistiken: Laut der vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderten Studie ›Hohes Alter in Deutschland‹, bei der bundesweit mehr als 10 000 Personen ab 80 Jahren zwischen November 2020 und April 2021 befragt wurden, fühlten sich 87,9 % der Hochaltrigen nicht einsam. Doch war der Anteil der über 80-Jährigen, die sich einsam fühlten, mit 12,1 % doppelt so hoch wie vor der Pandemie. Der Studie zufolge nimmt Einsamkeit in der späten Lebensphase zu. 22,1 % der über 90-Jährigen beschrieben sich als einsam, jedoch nur 8,7 % der 80- bis 84-Jährigen. Auffallend ist, dass 35,2 % der einsamen alten Menschen in Heimen lebten und 9,5 % in Privathaushalten. Ebenso waren Frauen über 80 Jahren mehr als doppelt so häufig von Einsamkeit betroffen wie Männer (15 % im Vergleich zu 7,4 %).
Aus der Begutachtungspraxis
Wie unterschiedlich ältere Menschen mit gesundheitlichen Problemen, mit körperlichen und / oder kognitiven Einschränkungen und Einsamkeit umgehen, das erlebt tagtäglich auch der Medizinische Dienst bei den Pflegebegutachtungen und den Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen.
»Ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass ältere Pflegebedürftige relativ gut in ein familiäres Netzwerk eingebunden sind. Aber es gibt auch andere, die kaum soziale Kontakte haben, die gesundheitlich stark beeinträchtigt sind, zurückgezogen leben, die traurig und depressiv sind.« Marcel Auerbach weiß, wovon er spricht: Der ausgebildete Altenpfleger ist seit 2018 beim Medizinischen Dienst Nordrhein und hat seither zahlreiche Pflegebegutachtungen bei älteren Menschen zu Hause oder in Pflegeheimen durchgeführt. Heute ist er im Fachbereich Pflege für die Qualitätssicherung zuständig, er arbeitet neue Kolleginnen und Kollegen ein, führt sie durch die Begutachtungs- Richtlinien, die die Medizinischen Dienste zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nutzen, führt aber auch noch selbst Begutachtungen durch.
Mit Ausnahme des Pflegedienstes vielleicht bin ich der einzige Mensch, der in der Situation zuhört.
»Ich habe oft erlebt und erlebe es noch heute, dass ältere Menschen, die alleine sind und sich auch so fühlen, viel Redebedarf haben, wenn wir zur Begutachtung kommen, weil wir in dem Moment der einzige Ansprechpartner sind. Mit Ausnahme des Pflegedienstes vielleicht bin ich der einzige Mensch, der in der Situation zuhört: Der Ehemann ist gestorben, der Kegelclub hat sich aufgelöst, die Kinder und Enkel kümmern sich nicht – Zuhören ist für mich das A und O, auch wenn nicht jede Information für das Gutachten, das ich erstellen muss, wichtig ist.«
Erkennen, ernst nehmen und beraten
Nicht immer erzählten Pflegebedürftige offen von ihrer persönlichen Situation, viele seien eher verschlossen, die Einsamkeit offenbare sich erst bei genauem Hinsehen, sagt Auerbach: »Nehmen wir mal an, jemand hat eine schwere Arthrose, wohnt im vierten Stock, hat keinen Aufzug, kann keine Treppen mehr steigen, kommt nicht mehr allein aus dem Haus, bekommt nur selten Besuch und ist so quasi zwangsläufig isoliert. Daraus resultiert häufig auch eine depressive Stimmungslage, die ich – selbst wenn keine Diagnose vorliegt – erkennen und ernst nehmen muss.«
Als Gutachter sieht Auerbach seine Aufgabe auch darin, zu beraten und Tipps zu geben, zu fragen, ob und was die oder der Betreffende bereits versucht hat oder versuchen könnte, um der Einsamkeit zu entgehen: Gibt es Kontakt zu Nachbarn? Videocalls mit Enkeln? Könnte eine Tagespflege helfen? Oder braucht es womöglich doch weitergehende ärztliche und therapeutische Unterstützung?
Luise besucht inzwischen zweimal in der Woche eine Tagespflege und knüpft dort hoffentlich neue Kontakte.
3 Fragen an Dr. Matthias Meinck
Dr. Matthias Meinck ist stellvertretender Leiter des Kompetenz-Centrums Geriatrie, eine Gemeinschaftseinrichtung der Medizinischen Dienste.
Das KC Geriatrie unterstützt die Medizinischen Dienste, die Krankenkassen und ihre Verbände bei Fragen zur Versorgung geriatrischer Patientinnen und Patienten, und es berät auch den GKV-Spitzenverband. Spielt das Thema ›Einsamkeit bei älteren Menschen‹ dabei auch eine Rolle?
Ja, das Thema spielt eine wichtige Rolle in der medizinischen Versorgung geriatrischer Patienten und damit in unserer Grundsatzberatung. Einsamkeit kann zum Beispiel negative Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit haben, einschließlich erhöhtem Risiko für Depressionen, Angst-/Schlafstörungen und Bluthochdruck. Einsame Menschen sind gegebenenfalls weniger motiviert und ihre Compliance ist reduziert. Sie könnten daher weniger Behandlungsfortschritte erzielen. Einsamkeit und soziale Isolation haben daher in der Geriatrie große Bedeutung.
Ältere Menschen sind oft von Multimorbidität, Behinderung, Pflegebedürftigkeit betroffen und haben weniger soziale Netzwerke. Sind sie zwangsläufig einsamer?
Nein, ältere Menschen sind nicht unbedingt häufiger einsam als jüngere. Sie sind zwar häufiger Faktoren ausgesetzt, die Einsamkeit begünstigen, zum Beispiel knappes Einkommen, Wegfall beruflicher Kontakte, Verlust von Angehörigen/Freunden, eingeschränkte Mobilität, beeinträchtigte Seh- und Hörfunktion, dennoch kann ihre soziale Einbindung stark variieren. So haben viele ältere Menschen gut etablierte soziale Netzwerke (Familie, Freunde und Nachbarn), die auch in Zeiten von Krankheit umfänglich unterstützen. Ältere Menschen haben oft gelernt, mit Veränderungen umzugehen, und können neue soziale Kontakte knüpfen, sei es durch Vereine, Gruppen und auch vermehrt durch digitale Angebote. Manche empfinden Einsamkeit auch weniger stark, weil sie ein positives Lebensgefühl entwickelt haben und sich in ihrer Lebenssituation wohlfühlen, auch wenn sie körperlich eingeschränkt sind. Zudem ist die Qualität sozialer Kontakte häufig wichtiger als deren Quantität und die verbleibenden Kontakte können an Bedeutung gewinnen.
Während der Pandemie haben die Einsamkeitsbelastungen für Ältere zugenommen, insbesondere Hochaltrige, vor allem Frauen und Menschen in Pflegeheimen, fühl(t)en sich einsam. Müssen geriatrische Versorgungskonzepte angesichts der demografischen Entwicklung künftig Einsamkeitsrisiken stärker mitdenken?
Die Corona-Pandemie hat aufgezeigt, dass Einsamkeitsrisiken deutlich stärker in den Fokus gerückt sind. Mit der wachsenden Anzahl älterer Menschen, insbesondere Hochaltriger, die zudem oft allein oder in Pflegeeinrichtungen leben, wird die Relevanz weiter zunehmen. Einsamkeit bzw. soziale Isolation und bestehende Risikokonstellationen sollten frühzeitig erkannt oder besser vermieden werden. Hierfür bedarf es niedrigschwelliger, bedarfsgerechter und zielgruppenspezifischer Ansätze, der Integration vielfältiger sozialer Komponenten in Begleitung und Versorgung älterer Menschen wie soziale Aktivitäten, Gruppenangebote bis hin zu digitalen Leistungen.