KI-basierte Hilfsmittel unterstützen Versicherte in ihrer Selbstbestimmtheit, aber der Trend hat auch Nachteile: Die Technik sollte menschliche Kontakte nicht ersetzen.
»Christel, du hast länger nichts getrunken, bitte trinke noch ein Glas«, fordert die Computerstimme die Seniorin mit den kurzen grauen Haaren auf, die auf einem Sessel in ihrer Wohnung sitzt. Christel lebt allein. Ein digitales Assistenzsystem begleitet die alte Dame in ihrem Alltag: Es fordert sie nicht nur auf, ausreichend Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Die technische Hilfe erinnert sie auch an anstehende Termine und daran, ihre Medikamente korrekt einzunehmen.
Da Christels Kinder nicht in unmittelbarer Nähe leben, ist die Seniorin über eine Funktion ihres neuen Alltagshelfers besonders glücklich: den Sturzsensor. Die an mehreren Stellen in der Wohnung angebrachten Detektoren schlagen Alarm, wenn Christel das Gleichgewicht verlieren und hinfallen sollte. Je nach Programmierung der Alarmkette benachrichtigt der digitale Helfer den Pflegedienst, die Nachbarn und die Verwandten. Das System benötigt für die Sturzerkennung keine Kamera. Die Sensoren reagieren allein auf die Umrisse einer liegenden Person. Eine Funktionsweise, die besonders bei Anwenderinnen wie Christel gut ankommt, die sich weniger beobachtet, aber dennoch sicher fühlen.
Mehr Selbstbestimmung und Teilhabe
›Länger, selbstbestimmt und sicher zuhause leben‹, bewirbt die Herstellerfirma ihr Produkt, das im Hilfsmittel- /Pflegehilfsmittel-Verzeichnis gelistet ist und in der Regel ab Pflegegrad 1 von den Pflegekassen bezahlt werden sollte. Das Assistenzsystem, eines unter vielen Angeboten auf dem Markt, steht stellvertretend für einen Trend: »In Zukunft wird uns die digitale Medizin als Patientinnen und Patienten begleiten«, so das Fraunhofer Institut für Kognitive Systeme zum Thema Künstliche Intelligenz in der Medizin.
Der GKV-Spitzenverband sieht die Chancen von Hightech- oder KI-basierten Hilfsmitteln vor allem vor dem Hintergrund zweier Entwicklungen: Zum einen werde sich in Zeiten des Fachkräftemangels die Digitalisierung vom Trend zum nötigen Standard entwickeln. Der Verband erwartet ein Fortschreiten der Digitalisierung unter anderem in den Bereichen Datenverarbeitung, Datenanalyse, Messgenauigkeit und Informationsbereitstellung. »KI-basierte Hilfsmittel können aber auch die Selbstbestimmtheit und Teilhabe der Versicherten unterstützen«, so Claudia Widmaier vom GKV-Spitzenverband. Insbesondere für Menschen mit Bewegungsstörungen, die durch Hirnschädigungen entstehen, und Personen mit Rückenmarksverletzungen oder ALS würden assistive Technologien wieder eine Kommunikation mit der Umwelt ermöglichen – zum Beispiel über Augen- oder Kopfsteuerung.
Die Vorteile der Hightech-Hilfsmittel
Die technische Entwicklung geht rasant voran, die Möglichkeiten scheinen unbegrenzt und haben unbestritten viele Vorteile. Das Tabletten-ManagementSystem erinnert chronisch kranke Menschen optisch und akustisch an die Medikamenten-Einnahme. »Bitte Medikamente einnehmen!«, tönt eine männliche Stimme aus dem kastenförmigen Gerät, das neben den Tabletten auch täglich bis zu fünf Gläser Wasser zum Herunterspülen der Pillen ausgibt. Bei nicht ordnungsgemäßer Einnahme dagegen benachrichtigt das System eine zuvor festgelegte Kontaktperson (zum Beispiel aus der Familie oder vom Pflegedienst).
Sensorsysteme registrieren nicht nur Stürze. Sie können auch Bettein- oder -ausstiege erfassen und individuelle Aktivitätsmuster verfolgen. Es gibt verschiedene Produkte. Manche werden unterhalb der Matratze, andere an der Bettkante angebracht. Weichen die Messungen von den zuvor festgelegten Ereignissen ab, schlagen die Geräte Alarm, wenn die Betroffenen es selbst nicht mehr können.
Entwickelt werden unter anderem auch roboterhafte Stützstrukturen für Arme oder Beine. Solche Exoskelette könnten zukünftig zum Beispiel menschliche Arme unterstützen, die verletzt oder geschwächt sind. Dank KI könnte so ein Produkt etwa ein Glas Wasser erkennen und einer gehandikapten Person individuell und KI-gesteuert helfen, das Glas zum Mund zu führen.
KI-gesteuerte Insulinpumpen
Eine besondere Anwendung ist längst im Alltag angekommen: »In der heutigen Diabetesbehandlung der Versicherten, die einer intensivierten Insulintherapie bedürfen, sind AID-Systeme (Automated Insulin Delivery) nicht mehr wegzudenken und erleichtern den Versicherten das Glukosemanagement«, sagt Widmaier. Dass das Thema ›Zucker‹ das Leben der Betroffenen heute weitaus weniger bestimmt als in der Vergangenheit, ist vor allem den technischen Entwicklungen zu verdanken.
Menschen, die an Diabetes Typ 1 erkrankt waren, mussten sich früher mehrmals am Tag in den Finger piksen, um den Zuckerwert im Blut zu bestimmen, und sie mussten sich vor dem Essen und zwei Stunden danach Insulin in den Bauch oder den Oberschenkel spritzen. Heute erledigen das bei vielen Betroffenen KI-gestützte Pumpensysteme.
Ein Sensor auf der Haut misst dabei kontinuierlich den Glukosewert im Unterhautfettgewebe. Eine App reguliert die Insulinfreigabe über eine Pumpe am Bauch je nach aktuellem Bedarf. Berücksichtigt wird dabei auch, wie die Patientin oder der Patient persönlich auf Insulin reagiert. Der dem System zugrundeliegende Algorithmus lernt den Betroffenen dabei quasi immer besser kennen und kann die Insulingabe immer genauer steuern.
Die in der Fachwelt ›Closed-Loop-Control‹ genannte Anwendung vermindert die Gefahr einer Unteroder Überzuckerung deutlich. Inzwischen kommen KI-gestützte Pumpensysteme nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern und Jugendlichen sowie bei Kleinkindern zum Einsatz. Bei den ganz Kleinen schwankt der Insulinbedarf besonders stark. Eine Studie mit 74 Kleinkindern zwischen einem und sieben Jahren aus Österreich, Deutschland, Luxemburg und Großbritannien zeigte, dass das System auch hier sicher ist und die Eltern bei der Betreuung ihres zuckerkranken Kindes stark entlasten kann.
Die Grenzen der Technik
Olga Kordonouri, Fachärztin für Kinderheilkunde und Jugendmedizin und Chefärztin der Diabetologie am Kinder- und Jugendkrankenhaus ›Auf der Bult‹ in Hannover, machte schon vor Jahren auf eine Problematik aufmerksam, die sich aus der Anwendung von Hightech-Hilfsmitteln ergeben kann: »Trotz dieser Fortschritte kann auch in Zukunft nicht auf eine Schulung der Patienten verzichtet werden.«
Wie bei jeder anderen technischen Anwendung auch können Fehler auftreten. Der Sensor muss beispielsweise genau funktionieren und der Katheter für die Insulinzufuhr korrekt liegen. Nur informierte Patientinnen und Patienten wissen, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, wenn der Zuckerwert trotz KI einmal zu hoch oder zu niedrig liegt.
Auch der GKV-Spitzenverband weist auf mögliche Probleme hin: »Bei der Entwicklung ist zudem zu bedenken, dass die Nutzung solcher Hightech-Hilfsmittel nicht zum Verlust von Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen bei den Versicherten führt.« Weitere Herausforderungen sieht der Verband insbesondere beim Datenschutz, bei der Datensicherheit, der Zuverlässigkeit und Genauigkeit sowie dem Nachweis der Erfüllung grundlegender Sicherheits- und Leistungsanforderungen.
Menschenorientierung und Wertschätzung
Schon seit Jahren sorgen sich Patientenvertreterinnen und -vertreter bei Diskussionen zum Einsatz von KITechnologien in der Medizin vor allem um einen sehr wichtigen Bereich: Die Interaktion mit KI-Hilfssystemen darf nicht dazu führen, dass echte menschliche Kontakte weniger werden. Wertschätzung und Menschenorientierung im Gesundheitssystem dürfen nicht verlorengehen. Die neuen Technologien sollen entlasten, aber so, dass etwa Pflegefachpersonen mehr Zeit für den direkten Austausch mit Patienten haben.
Der Deutsche Ethikrat argumentiert in seiner Stellungnahme ›Mensch und Maschine – Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz‹ für den Bereich Medizinanwendungen in ähnlicher Weise: »Je höher der Grad der technischen Substitution menschlicher Handlungen durch KI-Komponenten ist, desto stärker wächst der Aufklärungs- und Begleitungsbedarf bei Patientinnen und Patienten.« Die verstärkte Nutzung von KI-Komponenten in der Versorgung dürfe nicht zu einer weiteren Abwertung der sprechenden Medizin oder zum Abbau von Personal führen, warnt die Kommission.