Kinder auf der Flucht vor Krieg und Trauma

Von Dr. Wiebke Martinsohn-Schittkowski, Dorothee Buschhaus Lesezeit 4 Minuten
Kinderhand mit kaputtem Plüschteddy

Sie haben viel Leid erfahren und gesehen auf der Flucht vor Krieg und Gewalt und tragen eine Menge traumatisierender Erinnerungen im Gepäck. Kinder und Jugendliche, die Zuflucht in einem anderen Land suchen, brauchen besonderen Schutz, besondere Fürsorge und häufig auch professionelle Hilfe.

Über zwei Millionen geflüchtete und migrierte Menschen, darunter ein Drittel Kinder unter 18 Jahren, haben zwischen 2015 und 2022 in Deutschland Asyl beantragt. Laut UNICEF wurden im Jahr 2022 zusätzlich über eine Million Schutzsuchende aus der Ukraine registriert, davon ca. 350000 Minderjährige.*

Eine von vielen geflüchteten Kindern ist Ceylin** – sie ist fünf Jahre als sie mit ihren Eltern und drei Geschwistern aus Syrien über die Türkei und Griechenland, Serbien, Ungarn, Tschechien nach Dresden kommt und von dort aus schließlich ins Ruhrgebiet in eine Erstaufnahmeeinrichtung. Das Zuhause in Trümmern, die geliebten Großeltern krank zurückgelassen und 20 Tage auf der Flucht – Ceylin spricht nicht, reagiert ängstlich, zieht sich zurück.

Fern der Heimat

Die meisten aus Kriegs- und Krisenregionen geflüchteten Kinder haben Krieg und Vertreibung erlebt, sind Zeuge von Misshandlungen, Folter und Inhaftierungen geworden. Auf unsicheren Fluchtwegen waren sie oft körperlicher oder sexueller Gewalt ausgesetzt, mussten Hunger, Durst, Hitze und Kälte ertragen und sich um zurückgelassene Familienmitglieder und Freunde in der Heimat sorgen.

In Deutschland sind die häufig schwer traumatisierten Kids zwar ›formal‹ in Sicherheit, erleben aber neue Herausforderungen: beengte Unterbringung in ›Sammelunterkünften‹, mangelnde Privatsphäre, schwierige hygienische Verhältnisse, Diskriminierungserlebnisse und nicht zuletzt die Angst, abgeschoben zu werden.

Durch frühzeitige gezielte Unterstützung kann eine psychische Stabilisierung nach traumatischer Erfahrung erreicht und die Resilienz der Betroffenen gestärkt werden.

Ein wesentlicher Schutzfaktor für die mentale Gesundheit junger Geflüchteter ist eine bedarfsorientierte Betreuung und Versorgung nach Jugendhilfe-Standards. Diese sollen im engen Austausch mit niedergelassenen 23 Therapeutinnen und Therapeuten, örtlichen Psychosozialen Zentren, Selbstorganisationen und weiteren Akteuren erfolgen, sagt die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF). Durch frühzeitige gezielte Unterstützung könne eine psychische Stabilisierung nach traumatischer Erfahrung erreicht und die Resilienz der Betroffenen gestärkt werden.

Während Unterstützung, Unterbringung und bei Bedarf auch Therapie bei unbegleiteten Minderjährigen von Beginn an in der Hand der Jugendhilfe liegen, können geflüchtete Familien für ihre traumatisierten Kinder Hilfe in einem der bundesweit 48 Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge (PSZ) finden. Diese bieten niedrigschwellig eine psychosoziale und therapeutische Versorgung an, können aber nur einen minimalen Anteil des geschätzten Versorgungsbedarfs abdecken (2022: 3,1%). Mit anteilig 16,4% waren Minderjährige im Jahr 2022 nicht annähernd ausreichend versorgt.

Gesetzlich geregelt

Kommen Geflüchtete nach Deutschland, werden sie in der Erstaufnahmestelle zunächst ärztlich untersucht, um Infektionskrankheiten auszuschließen. Ein routinemäßiges Screening auf psychische Erkrankungen ist nicht vorgesehen, entsprechend bleiben diese häufig lange unerkannt.

Es gilt: Asylsuchende gleich welchen Alters haben einen Anspruch auf gesundheitliche Versorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Dieser ist eingeschränkt, schließt jedoch die Behandlung akuter psychischer Erkrankungen ein. Minderjährige haben darüber hinaus einen Anspruch auf medizinische Hilfen bei psychischen Langzeitfolgen. Je nach Aufenthaltsdauer und -status definiert das Gesetz unterschiedliche Leistungsniveaus. Anspruch auf reguläre medizinische Leistungen, also auch auf eine Richtlinien-Psychotherapie, haben Betroffene in der Regel nach 36 Monaten.

Der Zugang zu den Hilfesystemen ist für junge Geflüchtete schwierig und hürdenreich.

Kritische Stimmen bemängeln, dass der Zugang zu den Hilfesystemen, insbesondere auch zu Psychotherapien, für junge Geflüchtete schwierig und hürdenreich sei. Neben den besonderen Bedarfen aufgrund unterschiedlicher traumatisierender Erfahrungen bestehen vor allem sprachliche und kulturelle Barrieren, für die es nur wenige spezialisierte Angebote gibt.

Ceylin, das kleine Mädchen aus Syrien, hat es ohne Psychotherapie geschafft. Sie ist mit ihrer Familie in eine Wohnung am Stadtrand gezogen, geht regelmäßig in die Kita und hat sich mit Clara angefreundet. Feste Strukturen, neue soziale Kontakte und ein liebevolles familiäres Umfeld helfen ihr, wieder Vertrauen aufzubauen und mit den schrecklichen Erinnerungen besser umgehen zu können.

So wie ihr geht es europaweit etwa 70% der geflüchteten Kinder und Jugendlichen, die erheblich psychisch belastet sind, aber unter sicheren Bedingungen im Zufluchtsland eine gesunde Entwicklung nehmen können. Sie profitieren am meisten von einem stabilen sozialen Netz, das sie auffängt.

* Für Geflüchtete aus der Ukraine gelten gesonderte Regelungen
** Name geändert


3 Fragen an Dr. Wiebke Martinsohn-Schittkowski

Dr. Wiebke Martinsohn-Schittkowski ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie am Kompetenz-Centrum Psychiatrie und Psychotherapie der Gemeinschaft der Medizinischen Dienste.

Sind Kinder aus Kriegsgebieten hierzulande ausreichend versorgt?

Minderjährige Flüchtlinge sind besonders schutzbedürftig. Bereits die Befriedigung von Grundbedürfnissen über das Essen und Trinken hinaus kann das Ankommen in einem neuen Leben und die Bewältigung der traumatisierenden Erfahrungen unterstützen. Dem kindlichen Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit stehen jedoch oft die Regelungen des AsylbLG entgegen, die eine Unterbringung begleiteter Minderjähriger in sogenannten Aufnahmeeinrichtungen vorsehen. Kinder haben ein Bedürfnis nach sozialer Bindung, Anregung, Spiel und Leistung. Auf einen Besuch von Bildungseinrichtungen haben sie zwar ein Recht, aber keinen Anspruch, da gibt es bundesweit ein sehr unterschiedliches Vorgehen. Entsprechend ist bereits hier viel Luft nach oben, bevor von einer ausreichenden Versorgung gesprochen werden kann. Niedrigschwellige Beratungs- und Hilfsangebote können der großen Nachfrage nicht gerecht werden, lange Wartezeiten werden berichtet. Insbesondere die Versorgung von Minderjährigen stellt sich als nicht ansatzweise ausreichend dar. Auch der Zugang zur Jugendhilfe wird für begleitete Minderjährige als schwierig beschrieben. Viele Eltern kennen die Angebote nicht und wenn doch, scheitern sie oft an den Hürden einer Inanspruchnahme. Die medizinische Versorgung ist zwar gesetzlich geregelt, auch psychologische ›Hilfe zur Deckung besonderer Bedürfnisse‹ ist für Minderjährige möglich. Allerdings behindern sprachliche Barrieren und die oft schwer verständlichen Strukturen der Gesundheitsversorgung und der behördlichen Abläufe die Inanspruchnahme.

Wann müssen Eltern und Fachkräfte alarmiert sein?

Vor allem begleitenden Familienangehörigen wird auffallen, wenn ein Kind sich anders verhält als gewohnt. Betreuende im Hilfesystem müssen aufmerksam werden, wenn Minderjährige sich nicht altersgerecht verhalten. Genau hingesehen werden sollte, wenn sie ängstlich, empfindlich oder völlig niedergeschlagen wirken und sich zurückziehen. Manche Kinder können sich auf einmal nicht mehr konzentrieren, sind extrem unruhig oder ungewohnt aggressiv. Andere Symptome sind versteckter, etwa wenn Kinder schlecht schlafen und träumen oder im Spiel immer wieder traumatisierende Erlebnisse nachgestalten. Kindliche Traumafolgestörungen zeigen sich stärker in Verhaltensauffälligkeiten. Wenn diese anhalten, sollten sie professionell abgeklärt werden.

Wie können Minderjährige die Traumatisierungen verarbeiten und ein ›normales‹ Leben führen?

Alles deutet darauf hin, dass sich eine Mehrheit der Minderjährigen trotz Traumatisierungen gesund entwickelt. Wichtig dafür sind eine kindgerechte Umgebung und ein weitgehend normaler Alltag. Familien mit Kindern sollte frühzeitig angemessener Wohnraum und damit eine sichere Umgebung gestellt werden. Auch kann eine altersgerechte Eingliederung in Schule oder Kita verhindern, dass die negativen Erfahrungen das weitere Leben bestimmen. Sie ermöglicht nicht nur den wichtigen Kontakt zur Peergroup und eine angemessene Beschäftigung, sondern erleichtert auch den Spracherwerb. Damit kann ein Gefühl der Zugehörigkeit wachsen. Dies sind Ressourcen, die noch nicht ausreichend gehoben sind.

In etwa 30% der Fälle entwickelt sich eine behandlungsbedürftige Traumafolgeerkrankung. In diesen Fällen ist es hilfreich, wenn die Kinder und Jugendlichen bereits durch Lehrerinnen und Erzieher gesehen werden. Sind diese aufmerksam, kann eine frühzeitige Vermittlung in das professionelle Hilfesystem erfolgen. Das erleichtert die Zugangswege. Bei Bedarf steht ein gestuftes Angebot zur Behandlung psychischer Erkrankungen zur Verfügung.

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