Rund 7,9 Millionen Menschen in Deutschland leben mit einer schweren Behinderung, trotzdem stellt die Medizin für Menschen mit Behinderungen noch ein Randgebiet der Medizin dar – in Forschung, Lehre und Praxis. Das soll sich ändern.
Alle Patientinnen und Patienten in Deutschland sollen gleich gut behandelt werden, egal ob mit oder ohne Behinderung. So steht es – sinngemäß – im Sozialgesetzbuch. Doch in der Realität sieht das anders aus; da stören nicht nur bauliche Barrieren. Probleme gibt es oft im Arzt-Patient-Gespräch, sagt Prof. Dr. Tanja Sappok, die seit 2023 an der Uni Bielefeld die erste Professorin in Deutschland für Medizin für Menschen mit Behinderung ist: »Durch kommunikative Hürden wird es schwierig, die Informationen zu erhalten, die für die Diagnose wichtig sind. Viele Ärztinnen und Ärzte fühlen sich da überfordert.«
Medizinstudierende werden nicht ausreichend vorbereitet
Vor allem wenn Patientinnen oder Patienten eine kognitive Beeinträchtigung haben, fällt es Ärzten schwer, ausreichend gut zu kommunizieren, erklärt Sappok. Das liege unter anderem an der Ausbildung, bedauert sie: »Heute werden Medizinstudierende gezielt auf eine gelungene Arzt-Patient-Kommunikation vorbereitet, z. B. für das Überbringen von schlechten Nachrichten. Aber spezielle Werkzeuge zur Kommunikation mit Menschen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung, etwa die Methode der Leichten oder Einfachen Sprache oder der Unterstützenden Kommunikation, werden in der Regel nicht vermittelt.« So kann beispielsweise über Symbolkarten kommuniziert werden, wenn Personen nicht oder kaum sprechen können. Auch Gebärden, Sprachcomputer und andere Hilfsmittel können helfen, Gedanken, Wünsche und Gefühle auszudrücken – dies gilt als eine Form der sogenannten Unterstützenden Kommunikation. »Ebenso wie die gezielte Einbindung von Angehörigen, um individuelle Ausdrucksweisen richtig zu interpretieren: Drückt dieser Schrei z. B. Schmerz aus oder Freude?«, erläutert die Fachärztin für Neurologie, Nervenheilkunde und Psychiatrie und Psychotherapie.
Bisher ist Medizin für Menschen mit Behinderung kein regulärer Bestandteil des Medizinstudiums an deutschen Universitäten, aber an der Uni Bielefeld wird im Modellstudiengang die Thematik mit Studienbeginn in die Lehre integriert.
Die Idee: Studierende der Medizin treten von Anfang an während ihres Studiums mit Patientinnen und Patienten mit kognitiver oder schwerer Mehrfachbehinderung in Kontakt. Und geforscht wird nun auch, freut sich Sappok: »Es gibt derzeit kaum Studien zu diesem Thema, aber nur durch Forschung können wir auch für diese Patientengruppe eine evidenzbasierte Medizin anbieten.«
Ein ganz besonderes Forschungsprojekt
Im Rahmen des Forschungsprojekts ›Frimel‹ werden Menschen mit intellektueller Behinderung als Inklusive Lehrassistenten ausbildet. Sie vermitteln dann als Dozentinnen und Dozenten den Medizinstudierenden ihre Lebens- und Sichtweisen. Ein Austausch, der helfen soll, Wissenslücken über die spezifischen Bedarfe von Menschen mit intellektueller Behinderung zu adressieren.
Insgesamt stößt das Thema bei den Studierenden auf großes Interesse, berichtet Tanja Sappok, was in jedem Fall ein großer Fortschritt sei: »Es ist wichtig zu verstehen, welche Zumutungen Menschen mit Behinderungen im Gesundheitswesen erleben. Nicht die Patientinnen und Patienten müssen sich dem medizinischen Angebot anpassen, sondern die Klinik oder die Praxis den Kranken. Es ist unsere Aufgabe, für alle Menschen, egal ob mit oder Behinderung, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen sie gesund werden können.«