Barrierefreiheit in der medizinischen Versorgung ist für Menschen mit Behinderung essenziell, jedoch noch immer keine Selbstverständlichkeit. Doch gibt es hierzulande bereits eine Vielzahl an Vorreitern, die Inklusion aktiv umsetzen.
Ob digitale Terminportale, die von Screenreadern nicht gelesen werden können, oder Praxisräume im dritten Stock ohne Aufzug: Menschen mit physischen oder kognitiven Einschränkungen stoßen im deutschen Gesundheitssystem noch immer auf zahlreiche Hürden. Für sie sind Arztbesuche daher oft mit Stress, Angst oder Scham verbunden – oder werden sogar ganz vermieden.
Gleichzeitig entstehen vielerorts innovative Projekte, die zeigen, wie inklusive Gesundheitsversorgung gelingen kann – praxisnah, bedarfsorientiert und im engen Austausch mit Betroffenen. Vielen dieser innovativen Ansätze fehlt es jedoch bislang an einer stabilen Finanzierung. Stattdessen werden sie häufig aus Ehrenamt oder Projektmitteln getragen und bleiben daher oft im Verborgenen. Einige jedoch schaffen es bereits in die Öffentlichkeit und werden für ihr Engagement ausgezeichnet, etwa mit dem Bundesteilhabepreis 2023 zum Thema ›Gesundheit inklusiv – barrierefreie ambulante Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinderungen‹. Der Preis wird vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales verliehen und von der Bundesfachstelle Barrierefreiheit koordiniert.
Gynäkologie für alle
Eine der Initiativen ist das vielzitierte Münchner Modellprojekt ›Gynäkologische Sprechstunde für Mädchen und Frauen mit Mobilitätseinschränkungen‹, das den ersten Platz beim Bundesteilhabepreis 2023 belegte. Die Spezial-Sprechstunde kann ohne Zugangshürden für alle regulären gynäkologischen Untersuchungen in Anspruch genommen werden, z. B. von Rollstuhlfahrerinnen – auch bei einer Mehrfachbehinderung. Der Zugang zur Praxis ist barrierefrei. In den Praxisräumen befindet sich ein Hebelifter, mit dessen Hilfe Patientinnen sicher umgesetzt werden können, sowie ein höhenverstellbarer gynäkologischer Untersuchungsstuhl. Die Gynäkologinnen und Gynäkologen nehmen sich extra viel Zeit für den Behandlungstermin und werden dabei von einer Pflegefachkraft sowie einer Medizinischen Fachangestellten unterstützt.
Das 2021 initiierte Projekt ist in Zusammenarbeit der Stadt München mit der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern entstanden. Beteiligt waren auch Menschen mit Behinderung.
Inklusive Zahnmedizin
Ein weiteres Best-Practice-Beispiel für angewandte Inklusion ist die ›Inklusive Zahnarztpraxis‹ von Dr. Guido Elsäßer im baden-württembergischen Kernen-Stetten, die 2023 den zweiten Platz beim Bundesteilhabepreis erzielte.
Mit der Rampe oder dem Aufzug geht es in die Zahnarztpraxis, die sich in direkter Nachbarschaft einer Wohneinrichtung für Menschen mit Behinderung befindet. Hier werden mobilitätseingeschränkte Menschen an einem abgesenkten Empfangstresen begrüßt. Für die barrierefreie Untersuchung stehen unter anderem mobile Röntgengeräte und Hilfsmittel zur Umlagerung zur Verfügung, beispielsweise Haltegurte. Zudem legt die Praxis besonderen Wert auf barrierefreie Kommunikation. Für die Idee eines ›Inklusiven Zahnputzplanes‹ wurde die Praxis im vergangenen Jahr mit dem Praktiker-Preis der Deutschen Gesellschaft für Präventivzahnmedizin (dgpzm) ausgezeichnet. Der Plan unterstützt Menschen mit kognitiven Entwicklungsstörungen und Menschen, die sich lautsprachlich nicht ausdrücken können, bei der Zahnhygiene.
»Inklusive Zahnmedizin befasst sich gemeinsam mit und für Menschen mit Behinderung auch mit gesundheitspolitischen Fragestellungen und notwendigen Strukturanpassungen«, so der Vorstand des dgpzm. Ziel sei es, ein inklusives Gesundheitssystem mit voller, wirksamer und gleichberechtigter Teilhabe an allen zahnmedizinischen Gesundheitsangeboten zu etablieren.
Gesundheitsförderung vor Ort
»Wer gesund ist, kann besser mitreden, mitmachen, mitbestimmen« – das ist die Überzeugung der Initiative ›Projekt Gesundheit für alle – jetzt!‹, ebenfalls mit dem Bundesteilhabepreis ausgezeichnet. Das Projekt der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg hat das Ziel, Hürden für Menschen mit Behinderung abzubauen. Dafür setzt es einerseits auf die inklusive individuelle Gesundheitsförderung, anderseits auf die Verbesserung der ambulanten und stationären Versorgungsangebote. Teil der Initiative ist z.B. das bereits 2016 ins Leben gerufene Projekt ›Gesundheit 25* – Mehr Gesundheit im Quartier‹, das sich um die wohnortnahe medizinische Versorgung von Menschen mit Behinderung kümmert, indem es nach Feststellung der Bedarfe durch Vernetzung die Versorgungsstrukturen vor Ort verbessert.
Barrierefreies Fitnessstudio
Das deutschlandweit erste inklusive Fitnesszentrum wurde vom Behinderten-Werk Main-Kinzig im Jahr 2019 gegründet. Das Fitnessstudio im Westpark von Hanau-Steinheim in Hessen richtet sich gezielt an Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, die hier gemeinsam Sport treiben und etwas für ihre Gesundheit tun können. Auch die Betreuung und Beratung erfolgen inklusiv – durch ein gemischtes Team aus Menschen mit und ohne Behinderung. Gefördert wurde das Projekt durch das Integrationsamt beim Landeswohlfahrtsverband Hessen. »Alle Betriebe, die Menschen mit Beeinträchtigungen beschäftigen, können Förderungen beantragen«, sagte dazu bei der Eröffnungsfeier Thomas Niermann, Leiter des Integrationsamts – und verwies auf das Förderprogramm ›HePAS – Hessisches Perspektivprogramm zur Verbesserung der Arbeitsmarktchancen schwerbehinderter Menschen‹, das noch bis Ende 2026 läuft.
Menschen mit Behinderung als Alltagshelfer
Ein ganz besonderes Projekt hat die ›Herbstresidenz‹, das ehemalige Altenzentrum St. Nikolaus in Bernkastel-Kues in Rheinland-Pfalz, ins Leben gerufen. Bekannt wurde die Residenz im Frühjahr in der gleichnamigen VOX-Doku-Reihe mit TV-Koch Tim Mälzer und Schauspieler André Dietz. Die Idee: Menschen mit Behinderung können sich im Pflegeheim zu Alltagshelfern qualifizieren, eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt finden – und gleichzeitig den Pflegeheimbewohnenden eine verbesserte Versorgung und einen schöneren Alltag bieten. »Das Heim soll tatsächlich so etwas wie ein Vorbildheim werden«, sagt dazu André Dietz in der Doku-Reihe. Der Heimleiter hat den Beteiligten mittlerweile einen Arbeitsvertrag angeboten.
Finanzierung oft fraglich
Die Beispiele zeigen, wie Inklusion im Praxisalltag gelingen kann – durch eine Kombination aus baulicher, kommunikativer und individueller Barrierefreiheit. Damit tragen sie nicht nur zu einer besseren Versorgung bei, sondern sensibilisieren auch andere Akteure im Gesundheitswesen für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen – und setzen damit wichtige Impulse für die Regelversorgung.
Für ein inklusives Gesundheitssystem braucht es jedoch nicht nur Leuchtturmprojekte, sondern klare gesetzliche Rahmenbedingungen, verbindliche Standards und nachhaltige Finanzierungsmodelle. Denn ohne sie droht vielen Projekten das Aus.
So sagte bereits Dr. Volker Sieger, Leiter der Bundesfachstelle Barrierefreiheit, bei der Verleihung des Bundesteilhabepreises: »Beim Thema Finanzierung ist allerdings noch etwas zu tun, da die Behandlung von Menschen mit Behinderungen oftmals einen Mehraufwand an Zeit, Ausstattung und Personal bedeutet.« Wünschenswert sei insofern eine entsprechend gesicherte Vergütung von vertragsärztlichen Leistungen.
Impulse für mehr Inklusion liefert auch der ›Aktionsplan für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen«, den das Bundesgesundheitsministerium im Dezember 2024 vorgestellt hat. Vorgesehen sind unter anderem Fördergelder aus dem Strukturfonds für barrierefreie Praxen sowie mehr Angebote zur inklusiven Gesundheitsförderung und Prävention. Entscheidend wird nun die konkrete Umsetzung durch die neue Bundesregierung sein.