Methodenrestriktion ist eine der wirksamsten Maßnahmen, um Menschen vom Suizid abzuhalten. Eine gesetzlich verankerte Prävention könnte viele retten.
Durch Suizid versterben in Deutschland mehr Menschen als im Straßenverkehr, durch Drogen und durch AIDS zusammen. Laut Statistischem Bundesamt töteten sich 2023 rund 10300 Menschen in Deutschland selbst, die meisten von ihnen in Sachsen-Anhalt (17%), Sachsen (16,9%) und Hamburg (14,6%). Statistisch nicht erfasst sind assistierte Suizide. Im europäischen Vergleich der Suizidraten liegt Deutschland im oberen Bereich, Litauen und Slowenien an der Spitze, Griechenland und Malta und Liechtenstein am Ende. Die Suizidrate in Deutschland soll mithilfe des Ende 2024 vom Kabinett beschlossenen Gesetzesentwurfes einer nationalen Suizidprävention verringert werden.
Ältere Männer besonders gefährdet
Zwei von drei Suiziden werden von Männern verübt. Insbesondere ältere Männer über 70 Jahre haben ein drastisch erhöhtes Risiko, u. a. aufgrund häufig nicht erkannter psychischer Erkrankungen, Suchterkrankungen, tradierter Rollenbilder oder auch, weil sie seltener Hilfe suchen. Männer verwenden öfter tödlichere Methoden als Frauen, vielfach begehen sie Suizid durch Erhängen, Strangulieren oder Ersticken. Der in einigen Ländern vergleichsweise einfache Zugang zu Schusswaffen gilt als ein zentraler Risikofaktor für Suizid. Aber auch jede zweite durch Suizid verstorbene Frau ist älter als 60 Jahre. Bei den 15bis 25-Jährigen ist Suizid die zweithäufigste Todesursache weltweit. Die meisten Suizide und Suizidversuche stehen im Kontext psychischer Erkrankungen und Suchterkrankungen.
Prävention als gesellschaftliche Aufgabe
Bisherige Hilfsangebote konnten seit den 1980er Jahren zur Halbierung der Suizidrate beitragen, u. a. weil sich die Versorgung psychisch kranker Menschen verbesserte. Allerdings zeigt die Entwicklung der vergangenen Jahre keine nennenswerte Reduktion mehr. Zwischen 2021 und 2023 ist die Selbsttötungsrate sogar wieder gestiegen.
»Wir wissen, dass Krisen, Kriege und Katastrophen einen Einfluss auf die Suizidrate haben können. Daher schließen wir nicht aus, dass ein Teil dieser Zunahme den Belastungen durch Corona geschuldet ist«, so Prof. Ute Lewitzka, Professorin für Suizidologie und Suizidprävention an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS).
Sowohl Suizide als auch Versuche stellen auch für An- und Zugehörige eine Ausnahmesituation dar.
Zu den über 10000 vollendeten Suiziden kommen in Deutschland jedes Jahr schätzungsweise mindestens 100000 Versuche hinzu, die meisten verübt von jungen Frauen. Sowohl Suizide als auch Versuche stellen auch für An- und Zugehörige eine Ausnahmesituation dar. »Diese Zahlen und das große Leid, das dahintersteht, verdeutlichen: Wir brauchen Verbesserungen in der Prävention! Es wird immer Suizide geben – einen Großteil der Menschen können wir durch gezielte, gesetzlich verankerte Maßnahmen retten«, so Lewitzka.
Suizidwege versperren
Zwischen Entschluss und Tat liegen im statistischen Mittel zehn Minuten. Vor dem Hintergrund sei es wichtig, Zugänge zu Brücken, Bahngleisen, Hochhäusern oder bekannten ›Suizidhotspots‹ zu erschweren, bestimmte Medikamente nur kontrolliert und Pestizide in geringen Mengen abzugeben. Dass solche Schritte Erfolg versprechen, zeigt ein Beispiel aus den USA. So ist es durch die Installation von Sicherheitsnetzen an der Golden Gate Bridge gelungen, die Zahl der Suizide um 73% zu senken. Nur etwa 5% derjenigen, die so ihr Leben beenden wollten, nutzen später eine andere Methode. Methodenrestriktion ziele vor allem darauf ab, das Risiko aufgrund impulsiver Entscheidungen zu verringern, denn: »Sehr viele Menschen haben ihre Methode im Kopf, wie sie aus dem Leben scheiden wollen. Klappt das nicht, wählt die Mehrheit der Betroffenen keine andere Methode – nicht an diesem Tag und auch nicht später. Das zeigen Studien, und meine eigene Befragung von Überlebenden zeigt auch, dass der überwiegende Teil der Menschen, die einen Suizidversuch überlebten, froh darüber ist«, so die Expertin.
Gesetzliche Offensive geplant
Die Forschung zu fördern, ist ein wesentliches Ziel der DGS. Welche Faktoren für Suizidalität und die Entscheidung zur Selbsttötung eine Rolle spielen, müsse noch besser erforscht, Daten müssten systematisch erfasst und analysiert werden, um für die unterschiedlichen Zielgruppen passgenaue Präventionsmaßnahmen anbieten zu können.
Um die Suizidrate zu verringern, soll der Bund eine nationale Suizidprävention finanzieren. Zu den Vorschlägen des im Dezember 2024 verabschiedeten Gesetzentwurfs zählen u. a. die Einrichtung einer Bundesfachstelle im Gesundheitsministerium und einer einheitlichen, kostenlosen Rufnummer. Außerdem sollen eine Webseite für Betroffene und Hinterbliebene geschaffen und ein digitales Verzeichnis mit Hilfsangeboten aufgebaut werden.
Im Februar 2025 forderte der Bundesrat die grundsätzliche Überarbeitung des Entwurfes. Bestehende Hilfsangebote müssten im zukünftigen Konzept verankert, die geplante Finanzierung überdacht und kostenintensive Parallelstrukturen vermieden werden.
Prävention durch KI?
In Zukunft könnte auch KI für die Prävention bedeutsam sein. Dresdner Forscher der TU und des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus ließen ein KI-basiertes Sprachmodell Patientenschilderungen aus der psychiatrischen Anamnese analysieren.
Ob und inwieweit KI Diagnosen und Therapien perspektivisch unterstützen kann, wird die Zukunft zeigen.
Mit hoher Genauigkeit identifizierte das KI-Sprachmodell die Suizidgefährdung bei Patientinnen und Patienten anhand von einhundert Aufnahmedokumenten. Die Ergebnisse zeigen, dass die Hinweise auf suizidgefährdete Patienten automatisiert aus elektronischen Gesundheitsakten extrahiert werden konnten. Ob und inwieweit KI Diagnosen und Therapien perspektivisch unterstützen kann, wird die Zukunft zeigen. Noch ist vieles, was technisch machbar ist, durchaus umstritten: Beispielsweise wird die Nutzung von Chatbots für eine psychotherapeutische Unterstützung aktuell äußerst kontrovers diskutiert, weil sie die komplexen emotionalen Nuancen eines Menschen nicht vollständig erfassen und der Schutz der Privatsphäre nicht ausreichend gesichert ist.
Reden kann entlasten
Suizidalität ist ein lebenslanges, altersübergreifendes, komplexes Phänomen und in den allermeisten Fällen, da sind sich Forschende sicher, vermeidbar. Hinter Suizidgedanken steht oft nicht das Gefühl »Ich will nicht mehr leben«, sondern eher »Ich will so nicht mehr leben«. Den Verdacht oder sogar eine Drohung im persönlichen Umfeld zu ignorieren, hält Lewitzka für falsch. »In der Regel hilft es dem oder der Betroffenen, dass man über diese Gedanken überhaupt sprechen darf und dafür nicht bewertet wird. Dieses Reden – auch mit Laien – kann entlasten und den Weg für weitere Hilfen ebnen.«
Termine bei Beratungsstellen zu organisieren, die betroffene Person dorthin zu begleiten, Menschen im persönlichen Umfeld miteinzubeziehen, bedeutet oft eine große Unterstützung. »Wichtig ist aber auch zu signalisieren, dass man sich eventuell unsicher, überfordert mit der Situation fühlt und gern weitere Hilfen heranziehen möchte«, weiß Lewitzka.
Wer weiß, dass jemand den nächsten Stunden oder Minuten einen Suizid begehen will, informiert am besten sofort den Rettungsdienst.
Ute Lewitzka ist sich sicher: Methodenrestriktion, niedrigschwellige Behandlungsangebote, Früherkennung, Aufklärung über Suizidalität, Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen sowie eine gesetzlich verankerte Prävention könnten 30% weniger Suizidtote jährlich bedeuten.
Hilfsangebote
- Telefonseelsorge, Telefon 0800/1110111 (Evang.), 0800/1110222 (Kath.)
- Nummer gegen Kummer, Telefon 0800/1110550 (Eltern), 116111(Kinder und Jugendliche)
- Sozialpsychiatrischer Dienst, Sozialpsychiatrische Dienste der jeweiligen Stadt und Gemeinde
- Deutsche Depressionshilfe, Telefon 0800/33445 33