Über sichtbare und weniger sichtbare Barrieren

Von Diana Arnold Lesezeit 5 Minuten
Symbolbild: Bunte Legosteine bilden eine Pyramide.

Die medizinische Versorgung in Deutschland ist trotz zahlreicher Bemühungen weit davon entfernt, barrierefrei zu sein. Barrieren sind Zeugnisse mehr oder weniger offensichtlicher Benachteiligung von Menschen mit Behinderung. Dabei verstößt die Diskriminierung schon lange gegen geltendes Recht.

Das fünfte Sozialgesetzbuch sieht vor, die besonderen Belange behinderter und chronisch kranker Menschen zu berücksichtigen. Zudem gilt: »Die Versicherten können unter den zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Ärzten […] frei wählen.« Doch wie frei ist diese Wahl, wenn es nur wenige zugängliche Praxen gibt? Wenn die Wahl auf eine Ärztin oder einen Arzt fallen soll, der sich Zeit nimmt, komplexe Sachverhalte verständlich zu erklären – Zeit, die oft nicht vergütet wird? Und wenn es viel Frustrationstoleranz braucht, so einen Arzt oder eine Ärztin überhaupt ausfindig zu machen, viele Monate auf einen Termin zu warten und dann das barrierefreie Erreichen der Praxis zu organisieren?

Ambulante Praxen: vielfältige Barrieren, wenig Abbau

Der Begriff der Barrierefreiheit stammt aus dem Bauwesen, weswegen die häufigste Assoziation zu einer Barriere die unüberwindbare Treppe für den Rollstuhl ist. Diese kann bestenfalls durch eine Rampe aufgelöst werden. Doch von der Rampe bis zur Barrierefreiheit ist der Weg noch weit. 2023 verkündete die Stiftung Gesundheit, dass fast die Hälfte der ambulanten Praxen in Deutschland mindestens eine Vorkehrung getroffen habe, die Barrieren abbaut oder vermeidet. Doch zu den ermittelten Zahlen gehört auch: Über 90% der Praxen sind nicht auf Patientinnen und Patienten mit Sehbehinderung vorbereitet, es fehlen also beispielsweise große kontraststarke Beschriftungen oder Leitsysteme durch unterschiedliche Fußbodenstrukturen. Dabei handelt es sich um physische Barrieren.

Noch weniger Praxen stellen sich auf Menschen mit Störungen der Intelligenzentwicklung ein, die dann vor allem auf Barrieren bei der Verständigung zu ihrer Gesundheit stoßen: »Kommunikationsbarrieren können schwerwiegend sein, weil sie die Anamnese, Befunderhebung, Behandlung und Nachsorge unmittelbar beeinflussen«, erläutert Prof. Dr. Reinhard Burtscher, Professor für Heilpädagogik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin. »Das Beschreiben von Beschwerden ist selbst für viele Menschen ohne Beeinträchtigung nicht immer einfach. Umso herausfordernder gestaltet sich das Gespräch mit Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen. Das Risiko für Fehlannahmen im Anamnesegespräch ist deutlich erhöht.« Burtscher hat daher unter anderem medizinische Aufklärungsbögen in Leichter Sprache mit entwickelt und engagiert sich im Rahmen verschiedener Projekte dafür, dass sich Menschen mit Störungen der Intelligenzentwicklung selbstbestimmt für ihre Gesundheit einsetzen können. Dass es aber insbesondere an (ausreichend vergüteter) Zeit fehlt, die das medizinische Fachpersonal zur Kommunikation aufbringen müsste, stellt vor allem eine strukturelle Barriere dar.

Behindert sein oder behindert werden?

Strukturelle Barrieren sind oft gesellschaftlich verfestigt und auf ein Verständnis von Behinderung zurückzuführen, das von der Soziologie als medizinisches Modell bezeichnet wird. Demnach wird Behinderung ausschließlich als Krankheit oder Defizit betrachtet, als Mangel an Gesundheit, die wiederum als Normwert gilt. Dem gegenüber steht das soziale Modell, das Raùl Aguayo-Krauthausen, Inklusionsaktivist und Gründer des Vereins Sozialheld*innen, in seinem Buch Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden. veranschaulicht:

»Die Person ist nicht behindert, sondern sie wird durch ihre Umwelt behindert, die individuelle Unterschiede nicht berücksichtigt. Wenn ich als Rollstuhlnutzer vor einer Treppe oder einem defekten Aufzug stehe und nicht weiterkomme, dann werde ich nicht durch meine Mobilitätseinschränkung behindert, sondern durch die Barrieren in der Welt.«

Laura Gehlhaar, Autorin, Unternehmensberaterin und Rollstuhlnutzerin, beschreibt in ihrem Essay ›unlearn sex‹, wie der medizinische Blick auf ihre Diagnose sie als fünfjähriges Kind zu einem Forschungsobjekt machte, das ungefragt untersucht, beurteilt und herumgezeigt wurde. Ihr Verhältnis zu Ärztinnen und Ärzten habe sich zwar gebessert: »Ich habe gelernt, dass mein Körper nur mir selbst gehört und niemandem sonst.« Doch die unfreie Wahl der zugänglichen (fach)ärztlichen Praxis ist für Gehlhaar eine Diskriminierung, die sie längst als Normalität empfindet. Gegenüber fachlichen, terminlichen und physischen Barrieren hätte die Sympathie für den Arzt oder die Ärztin daher oft das Nachsehen. Ein vertrauensvolles Verhältnis würde so schließlich zum Privileg. Dies kann auch zur Folge haben, dass sie abwägt zwischen gesundheitlicher Selbstfürsorge und dem Verzicht auf eine notwendige Behandlung.

Diskriminierung als Barriere

»Oft erlebe ich auch, dass Beschwerden viel zu schnell mit meiner Behinderung in Zusammenhang gebracht werden, wofür es gar keine Evidenz gibt. Meine Behinderung hat ja beispielsweise nichts mit einem eingewachsenen Zehennagel zu tun.« Laura Gehlhaar beschreibt damit ein Problem, das in den Gesundheitswissenschaften als ›diagnostic overshadowing‹ (diagnostisches Überschatten) bezeichnet wird: Die hohe Gewichtung einer Behinderung oder chronischen Erkrankung führt zur Fehlbewertung davon unabhängiger Symptome und Krankheitsbilder, wodurch sich die passende Behandlung verzögert oder schlimmstenfalls ganz ausbleibt. Dabei könnte diese Barriere im ersten Schritt abgebaut werden, wenn die Patientin als Expertin für ihren Körper erkannt wird. Zu dieser Expertise gehört beispielsweise auch, dass Gehlhaar den manuellen gegenüber dem elektrischen Rollstuhl vorzieht, um ihre Selbstständigkeit so lange wie möglich auszukosten. Hier hat sie sich letztlich sogar gegen die Empfehlung des Medizinischen Dienstes entschieden.

„Menschen fliegen ins All. Ich komme nicht in die Arztpraxis.“

Für Beatrice Gómez Barroso von Weibernetz e. V., der Politischen Interessenvertretung behinderter Frauen, sind gesetzlich bindende Fristen und damit verbundene Sanktionen vor allem für den flächendeckenden Ausbau barrierefreier gynäkologischer Praxen längst überfällig.

Gerademal 5 gynäkologische Praxen und Spezialambulanzen gibt es in Deutschland, die weitestgehend barrierefrei sind. Die allermeisten Frauen mit Behinderung suchen eine Praxis daher erst auf, wenn es ein akutes Problem gibt. Reguläre Vorsorge ist kaum realisierbar und typisch frauenspezifische Beschwerden wie Endometriose, Wechseljahre oder PCOS werden bei Frauen mit Beeinträchtigungen kaum berücksichtigt.

Schon geografisch lässt sich schnell nachvollziehen, dass die nächste der 5 infrage kommenden Praxen oft genug in schwer erreichbarer Ferne liegt. Oder wie es die Aktivistin Lucienne Mindermann formuliert: „Menschen fliegen ins All. Ich komme nicht in die Arztpraxis.“

Barrieren können offenkundig sein wie der fehlende Hebelifter in der gynäkologischen Praxis oder die Website, die nicht mit Tastatur oder Lese-Software erschlossen werden kann. Zu den weniger offenkundigen Barrieren gehört, behinderte Menschen beispielsweise beim Entwickeln der elektronischen Patientenakte zu vernachlässigen. So ist die ›ePA für alle‹ in letzter Konsequenz eine ePA für nichtbehinderte Menschen.

»Inklusion ist nicht nur eine Frage der Barrierefreiheit oder des Nachteilsausgleichs«, so Raúl Aguayo-Krauthausen, »es ist die Idee eines Systems, an dem alle Menschen gleichberechtigt teilhaben und selbstbestimmt zusammenleben.«


Weitere Infos

Laura Gehlhaar auf Instagram @fraugehlhaar

Sozialheld*innen e.V.

Weibernetz e.V. Politische Interessenvertretung behinderte Frauen


Barrierenabbau beim Medizinischen Dienst

Dass sich auch die Medizinischen Dienste zunehmend für den Abbau von Barrieren einsetzen, zeigt beispielsweise das Engagement des Medizinischen Dienstes Berlin-Brandenburg. Seit rund fünf Jahren reduziert der MD schrittweise Barrieren im Dienst. Das Unternehmensziel ist klar: Alle gestaltbaren Bereiche sollen barrierefrei sein. Die Teilziele sind in vier Dimensionen unterteilt: Standorte und deren Ausstattung, Informationstechnologie, Strukturen und Prozesse sowie die Internetseite des Dienstes. In der multidisziplinären Projektgruppe wirken Vertreter aus allen Bereichen des Dienstes mit, darunter die Schwerbehindertenvertretung, der Personalrat, die Betriebsärztin und behinderte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Zunächst ermittelte die Projektgruppe umfassend die bestehenden Barrieren. Daraufhin wurden Maßnahmen zur Beseitigung der Hindernisse geplant und umgesetzt. Beispiele hierfür sind ein Blindenleitsystem am Hauptstandort und barrierefreie Anfahrtsbeschreibungen auf der Website. Heute bietet der MD Berlin-Brandenburg mehr Chancengleichheit und Teilhabe für Menschen mit Behinderungen. Darüber hinaus vernetzt sich der MD, um gemeinsam zu lernen und Barrierefreiheit voranzubringen. So erhielt z.B. Projektleiterin Inga Fischer für ihren Vortrag auf der Public Health Tagung im Januar 2025, die u.a. von der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention sowie der Deutschen Gesellschaft für Public Health getragen wurde, positive Resonanz. Es zeigte sich: Barrierefreiheit und Sozialmedizin sind eng verbunden.

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