Frühgeborene Kinder benötigen neben intensivmedizinischer Versorgung viel Zuwendung von Bezugspersonen. Wenn Eltern das nicht gewährleisten können, übernehmen oftmals Ehrenamtliche.
Das Frühchen liegt eingekuschelt in eine Decke auf der Brust eines Mannes. Es schläft. Leise Stimmen sind zu hören, im Hintergrund brummen und ticken Beatmungsgeräte der NeugeborenenIntensivstation des Essener Uniklinikums. Dieser menschliche Kontakt ist für die gesundheitliche Entwicklung des Babys unglaublich wichtig. Das bestätigt auch die WHO mit der 2022 aktualisierten Leitlinie zur Pflege von Babys, die mit einem Geburtsgewicht von unter zwei Kilogramm auf die Welt kommen. Sie empfiehlt den Hautkontakt mit einer Bezugsperson direkt nach der Geburt noch vor dem Brutkasten. Beim Frühchenkuscheln, auch Kangorooing oder Baby-Cuddling genannt, werden Neugeborene auf den Oberkörper gelegt, um Körperkontakt herzustellen. Bei Eltern ist es die nackte Brust, bei Ehrenamtlichen ist ein Kittel dazwischen. Studien belegen, dass diese Nähe und Geborgenheit bei den frühgeborenen Babys erheblich zu ihrem Wachstum und Wohlergehen beitragen. Das Infektionsrisiko sinkt, die Gewichtszunahme steigt. Nicht nur der Hautkontakt direkt nach der Geburt, auch jede weitere Stunde verbessere die physiologischen Parameter der Frühgeborenen deutlich.
Früher Start ins Leben
Jedes elfte Kind kommt in Deutschland vor der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche und damit ›zu früh‹ auf die Welt. In Summe sind das ca. 55.000 Frühchen jedes Jahr. Gesundheitlich kritisch wird es für die rund 10.500 Frühchen mit einem sehr niedrigen Geburtsgewicht unter 1.500 Gramm (ein reif geborenes Baby wiegt mehr als doppelt so viel), rund 1.300 Babys wiegen nur ein Pfund oder weniger. Diese Frühchen benötigen – neben medizinischer Hightech-Versorgung – vor allem eines für einen guten Start ins Leben: Körperkontakt. »Wenn alles gut läuft, übernehmen die Bezugspersonen den täglichen Besuch und wechseln sich ab«, sagt Inken Ostermann vom Kinderschutzbund Essen. »Wenn nicht, sind wir da.« ›Wir‹, das sind Ehrenamtliche, die einspringen, wenn Eltern nicht oder nicht regelmäßig kommen können. Die Gründe sind vielfältig. Möglicherweise sind sie beruflich eingebunden, alleinerziehend, müssen Geschwisterkinder versorgen oder Angehörige pflegen, sind selber krank oder wohnen weit entfernt von der Klinik.
Dadurch, dass es nur 165 Perinatal-Zentren Level 1 in Deutschland gibt, die Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht unter 1.500 Gramm versorgen, ist der Einzugskreis entsprechend hoch. »Mein Anspruch ist, dass jedes Frühchen jeden Tag besucht wird«, sagt die 63Jährige, die sich seit zehn Jahren ehrenamtlich engagiert. Nach der Corona-Pandemie hat sie für den ehrenamtlichen Besuchsdienst in der regionalen Presse geworben. Die Resonanz war überwältigend: Es gingen 500 Bewerbungen ein. »Es ist ein Thema, das an Herz geht«, weiß die Koordinatorin, die selbst keine Kinder hat. »Die Resonanz war viel größer als unser Bedarf.« In einem Monat gebe es vier Frühchen zu ›bekuscheln‹, dann wieder keines. Wenn Bedarf ist, ruft die Station des Uniklinikums bei Ostermann an, die die Einsätze des 14-köpfigen Teams koordiniert. Nicht nur in Essen, auch in anderen Großstädten mit Perinatal-Zentren gibt es ähnliche Angebote.
Es ist ein Thema, das an Herz geht
Nestwärme geben
»Unsere Arbeit ist alles andere als trivial«, betont die 64-jährige Katrin Weigelt, Pflegedienstleiterin am Dresdner Universitätsklinikum, die den Besuchsdienst ›Grüne Damen‹ mit vierzig Ehrenamtlichen koordiniert. »Das Frühchenkuscheln ist eine Indikation, die ärztlich-pflegerisch angeordnet wird.« Das Einverständnis der Eltern vorausgesetzt, übernehmen die Ehrenamtlichen dann einen wichtigen Teil der Therapie. Den Eltern begegnen sie in der Regel nicht. »Kommen die Eltern ungeplant und überraschend zu ihrem Kind, ziehen wir uns meist zurück«, erzählt Weigelt. Es gebe auch kritische Situationen mit sehr jungen Eltern, mit Drogenbabys, die einen Entzug durchmachen müssen, kranken und behinderten Neugeborenen oder Kindern, bei denen schon früh klar ist, dass sie nicht in ihre Herkunftsfamilie zurückkehren werden, gibt sie offen zu. »Dann wird über die Klinik das Jugendamt eingeschaltet und eine Pflegefamilie gesucht.« Um mögliche psychische Belastungen für die Ehrenamtlichen abzufedern, kann die Pflegedienstleiterin an unterschiedliche Stellen in der Klinik verweisen: Supervisoren, Krisendienst, Psychologinnen und Psychologen sowie Seelsorgende.
»Wichtig ist, dass die Ehrenamtlichen Zeit mitbringen und entspannt sind. Diese Ruhe überträgt sich dann auch schnell auf die Babys«, weiß Hans-Jürgen Dohmen, Ehrenamtskoordinator vom Kinderschutzbund Köln, der gemeinsam mit Uschka Wermter den Besuchsdienst in der Kölner Uniklinik betreut. Zwölf Ehrenamtliche sind hier im Besuchsdienst aktiv.
»Wichtig ist auch die Einstellung, dass man die Bedürfnisse der Kinder in den Fokus stellt und zeitlich flexibel ist«, fügt er hinzu. Möglichst einmal die Woche für zwei bis drei Stunden kommen die Babypaten zum Einsatz. »Es sind Menschen, die mitten im Leben stehen und einen gefestigten Charakter haben. Es können auch Berufstätige sein, aber insbesondere sind Rentnerinnen bei uns im Team.«
Ehrenamt mit Sinn
»Viele sind im Ruhestand und suchen eine sinnvolle Tätigkeit«, berichtet auch Katrin Weigelt von ihren Erfahrungen aus dem Dresdner Uniklinikum. Aber nicht alle sind für dieses Ehrenamt geschaffen. »Es gab auch Personen, die die Aufgabe unterschätzt haben und nach kurzer Zeit wieder gegangen sind«, sagt sie. Jeden Monat gibt es Infotreffen für Interessierte. Die Ehrenamtlichen wählen alle Kliniken sorgfältig aus: »Ich fordere einen Lebenslauf und ein Motivationsschreiben sowie ein erweitertes Führungszeugnis für die Arbeit mit Kindern«, nennt Weigelt die Kriterien. Im nächsten Schritt führt sie intensive Vorstellungsgespräche. Ist diese Hürde geschafft, wird noch die Gesundheit durch Impfungen und eine ausführliche Vorsorgeuntersuchung überprüft. Regelmäßig gibt es Austauschtreffen für alle Ehrenamtlichen, in denen auch herausfordernde Situationen besprochen werden: Krankheiten der Neugeborenen, Behinderungen, Tod, Schicksale.
Kuscheln in der Klinik
Frühchen bleiben in der Regel bis zum ursprünglich errechneten regulären Geburtstermin in der Klinik. Krankheiten, Operationen oder eine Behinderung können für einen längeren Aufenthalt sorgen. Und man dürfe sich weder einer Illusion hingeben noch Berührungsängste haben, so die Mitarbeiterin des Kinderschutzbundes Essen. »Sauerstoffmasken, Beatmungsschläuche oder ein künstlicher Darmausgang schließen das Kuscheln aber keineswegs aus. Es stehen Stühle und Liegen bereit und das Pflegepersonal ist auch immer da und hilft den Ehrenamtlichen zum Beispiel beim Hinlegen«, sagt Inken Ostermann. Sobald die richtige Position gefunden ist, sind die Ehrenamtlichen ganz in ihrem Element.
In den Stunden, in denen ich da bin, gebe ich dem Kind die ganze Liebe, die ich habe. Ich streichle es vorsichtig mit meinen warmen Händen, singe, summe oder erzähle ihm, dass es groß und stark wird.
Ostermann erinnert sich an eine schöne Situation: »Kürzlich hatten wir eine Mutter mit Drillingen in der Klinik, die wurden oft alle gleichzeitig bekuschelt – das konnte die Mutter alleine ja gar nicht bewerkstelligen. Da waren wir Ehrenamtlichen viel im Einsatz.« Ein Erfolg ist es jedes Mal, wenn ein Frühchen mit ca. 3.000 Gramm entlassen wird. »Ich sage dann immer: Na du kleiner Dickmops, jetzt darfst du nach Hause gehen.«
Und jedes Mal, wenn Inken Ostermann nach einem Einsatz nach Hause geht, hat sie ein Lächeln im Gesicht.