Dilemma oder Chance? Leiharbeit in der Pflege

Von Dr. Ulrike Gebhardt Lesezeit 4 Minuten
Schild mit der Aufschrift "For Rent"

Am Thema Leiharbeit scheiden sich die Geister. Die einen halten den Trend zur Zeitarbeit für gefährlich, die anderen sehen darin eine Chance für grundlegende Veränderungen im Gesundheitswesen.

In Krankenhäusern und Pflegeheimen fehlt das Personal zurzeit an allen Ecken und Kanten. Nach Schätzungen des Berufsverbandes für Pflegeberufe sind in der Pflege aktuell knapp 200000 Vollzeitkräfte zu wenig beschäftigt. Um die Versorgung dennoch zu gewährleisten und arbeitsfähig zu bleiben, sind die Häuser auf Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer angewiesen, heißt es.

Gleichzeitig zieht es immer mehr Pflegefachpersonen in die Leih- oder Zeitarbeit. Ein gefährlicher Trend, den es unbedingt zu stoppen gilt oder eine alternative Arbeitsform, die unverzichtbar ist und außerdem positive Anreize für substanzielle Veränderungen im Gesundheitssystem bietet?

Leiharbeit, Zahlen und Fakten

»Die befristete Leiharbeit in der Pflege und klinischen Geburtshilfe hat in den letzten Jahren rasant zugenommen«, schreibt der Deutsche Pflegerat e.V. in einer Stellungnahme. Knapp 44.000 Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer waren 2022 in der Gesundheits- und Krankenpflege, dem Rettungsdienst, der Geburtshilfe und Altenpflege beschäftigt. Das entspricht einem Anteil von 2,3% aller Beschäftigten in diesem Bereich.

Wie sich dieser Trend weiterentwickelt, ist noch unbekannt. Sicher dagegen ist, dass sich der Fachkräftemangel in den nächsten acht bis zehn Jahren noch dramatisch verschärfen wird.

Wir rennen geradewegs in eine Versorgungskatastrophe hinein,

sagt Carsten Hermes, Vorstandsmitglied der Pflegekammer NRW. Grund hierfür sei der demografische Wandel, der sich auf zweierlei Ebenen auswirke: Die Gesellschaft werde immer älter und damit pflegebedürftiger. Gleichzeitig würden zum Beispiel allein in Nordrhein-Westfalen rund ein Drittel der beruflich Pflegenden in den kommenden zehn Jahren in Rente gehen. Demgegenüber stehen deutlich zu wenige Berufsanfängerinnen und -anfänger. Über Jahre sei versäumt worden, eine Ausbildungsoffensive zu starten, kritisiert der Deutsche Pflegerat. Zum Mangel trägt außerdem bei, dass viele professionell Pflegende ihre Arbeitszeit verringern. Die Teilzeitquote lag im Juni 2022 für sozialversicherungspflichtig beschäftigte Pflegekräfte bei 51%. Dazu kommt ein verhältnismäßig hoher Krankenstand. Altenpflegerinnen und -pfleger beispielsweise sind laut einer Auswertung der Techniker Krankenkasse (TK) knapp 14 Tage im Jahr mehr krankgeschrieben als der Durchschnitt der bei der TK versicherten Beschäftigten.

Attraktives, alternatives Arbeitsmodell?

Die Arbeitsbedingungen für Pflegende sind vielerorts unattraktiv: Aus der Unterbesetzung resultiert ein Zeitmangel, der stresst, auch, weil man dem eigenen Anspruch nicht mehr gerecht werden kann. Ein immer noch vergleichsweise zu niedriges Gehalt, Schichtdienst und das Fehlen einer verlässlichen Dienstplanung bringt Pflegende an den Rand ihrer Belastungsgrenze, kritisiert das Deutsche Pflegehilfswerk e.V. »Vor diesem Hintergrund gewinnt die Tätigkeit als Leiharbeitnehmerin oder -nehmer an Attraktivität«, meint der Deutsche Pflegerat.

In vielen Fällen sei die Zeitarbeit verbunden mit einem überdurchschnittlichen Gehalt, einer verlässlichen Dienstplanung, der Wahl von Schichten und der Vergütung von Überstunden, so der Deutsche Pflegerat: »Im Gegensatz dazu bieten Arbeitgebende dem Stammpersonal keine derartigen Arbeitsbedingungen, die den Umstieg und die Leiharbeit unattraktiv und damit überflüssig machen würden.«

Situation der Pflegebedürftigen

Der Deutsche Pflegerat fürchtet, dass bei einem Zuviel an Leiharbeit die Patientensicherheit gefährdet sein könnte. Häufige, kurzfristige Wechsel des Personals könnten vor allem ältere Menschen und solche mit kognitiven Einschränkungen verunsichern. Der Pflegerat äußert die Sorge, dass Leiharbeitnehmende den Qualitätsanforderungen nicht im gleichen Umfang gerecht werden wie die Stammbelegschaft.

Carsten Hermes sieht das differenziert: »Leiharbeiter kann man nicht per se abwerten.« Es hänge immer davon ab, wer käme: »Häufig kommen sehr gute, hochqualifizierte Kräfte, die ein hohes Maß an Flexibilität mitbringen.« Die Pflegekammer Nordrhein-Westfalen wehrt sich gegen eine pauschale Unterstellung der geringeren Pflegequalität durch Leiharbeitspersonen. Das sei durch Studien nicht bestätigt: »Die Fachlichkeit eines beruflich Pflegenden zeichnet sich durch dessen individuelle Fähigkeit aus, zum Beispiel innerhalb kürzester Zeit das Maß an Beziehungsarbeit zu leisten, um dem Pflegeempfangenden Sicherheit und professionelle Pflege zukommen zu lassen.«

Natürlich gäbe es unter den Leiharbeitsfirmen auch schlechte Anbieter, schränkt Hermes ein: »Ein Altenpfleger hat an einer Herz-Lungen-Maschine erstmal nichts zu suchen.« Es brauche vielmehr dringend klare Profilbeschreibungen sowie übereinstimmende Qualitätsindikatoren für eine gute Pflege, an denen sich Leihfirmen und die entleihenden Einrichtungen orientieren müssen.

Spaltung der Stammbelegschaft?

Leiharbeit kann Personalengpässe überbrücken. Sie ist aber auch teuer und kann das Betriebsklima trüben. Wenn eine Leiharbeitsperson eingearbeitet werden muss, keine Nachtdienste übernimmt und zudem mehr verdient als eine festangestellte Kraft, birgt das Konfliktpotenzial. Carsten Hermes wehrt sich auch hier gegen Verallgemeinerungen. Wenn ein gut eingespieltes Zweierteam der Stammbelegschaft auf einer Intensivstation eine zusätzliche Leiharbeitskraft zugewiesen bekomme, profitierten alle. Wenn allerdings mit der gleichen Besetzung drei Leiharbeitende integriert werden müssen, sehe die Situation schon kritischer aus.

Wir registrieren, dass die Belegschaften durch Leiharbeit mehr und mehr gespalten werden,

sagt dagegen Dr. Gerald Gaß, Vorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG). Gaß warnt, dass sich Leiharbeit im Krankenhaus von der Ausnahme zum Regelfall entwickle. Davon ist sie aber mit etwas über 2% Anteil aller Beschäftigten noch weit entfernt. Eine der Hauptsorgen der Arbeitgeber dürfte eine andere sein: »Im Durchschnitt sind die Personalkosten für Leiharbeitskräfte doppelt so hoch wie für festangestellte Mitarbeiter«, so die DKG.

Verbot der Leiharbeit wird Lage verschärfen

Die DKG fordert Reformen, die die Leiharbeit in der Pflege begrenzen sollen. Wünschenswert sei sogar, Leiharbeit in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen grundsätzlich zu verbieten. Es gäbe zwar eine gesetzgeberische Initiative, um die Leiharbeit zu verringern, indem die Gehälter begrenzt werden, meint der Deutsche Pflegerat. Außerdem sollen trägereigene Springerpools eingeführt werden. Doch ein gesetzliches Verbot der Arbeitnehmerüberlassung sei keine Lösung, zitiert das Deutsche Ärzteblatt Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Stattdessen solle der Leiharbeit durch attraktivere Arbeitsbedingungen für die Stammbelegschaft begegnet werden. Dazu passt eine Entschließung des Bundesrats vom 2.Februar 2024, die von der Ampelkoalition ein Gesetz zur Eindämmung der Leiharbeit in der Pflege fordert.

»Ein Verbot der Leiharbeit wird die Situation nur noch weiter verschärfen«, befürchtet Carsten Hermes. Die Menschen würden dann eher mit der Pflege brechen und das Berufsfeld endgültig verlassen. Seiner Ansicht nach sei es gar nicht so schwierig, Menschen in der Pflege zu halten beziehungsweise neue Pflegefachpersonen hinzuzugewinnen:

Was die Mitarbeitenden wollen, ist ganz klar: planbare Dienste, eine gute Einarbeitung und eine gerechte Bezahlung.

Außerdem müssten sich die Einrichtungen konsequent an die Pflegeuntergrenzen halten und diese nicht permanent untergraben.

Hermes glaubt, das Thema Leiharbeit werde sich ganz von alleine regulieren. Leiharbeit an sich sei weder nur gut noch nur schlecht. Sie habe eine Berechtigung in der aktuellen Situation und auch in zehn Jahren werde es noch Zeitarbeitskräfte in der Pflege geben. Seinen eigenen Erfahrungen zufolge wolle auch längst nicht jede und jeder in die Leiharbeit. Der überwiegende Anteil der Pflegenden schätze ein vertrautes Umfeld. Aber es gebe auch die anderen: »Leiharbeit ist eine Arbeitsform, die manche Menschen einfach glücklich macht.«

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