Neue Ideen für die Pflege

Von Christian Beneker Lesezeit 4 Minuten
Ein Werkzeugkoffer mit Werkzeugen steht neben einer Diskokugel.

Schnuppertage in Pflegeheimen für Zugewanderte auf Jobsuche, Nachbarn, die älteren Menschen in der Gegend helfen oder Netzwerke für junge demenziell erkrankte Menschen. Die Zukunft der Pflege hängt auch von solchen frischen Ideen ab.

Eine anhaltende Personalnot in Deutschland bedroht die Pflege unzähliger älterer Menschen. 249 500 von derzeit 1,14 Millionen professionell Pflegenden gehen in den nächsten zehn Jahren in den Ruhestand und müssen ersetzt werden. Anstatt achselzuckend die Situation zu beklagen, werden zunehmend mehr Menschen aktiv, gründen Initiativen und starten Aktionen im Dienst der guten Sache.

Beispielhaftes Engagement

Ein Beispiel aus Wuppertal: Dort will man neu zugewanderten Pflegekräften den Weg ans Pflegebett ebnen. Das PROjekt Pflege Wuppertal unterstützt Zugewanderte (meist aus Syrien und Afghanistan) mit mehreren Seminar-Modulen, darunter Sprachkurse, Bewerbungstrainings oder Praktika. »Besonders beliebt ist die Pflegewoche«, sagt Nadja Shafik, bei der Stadt Wuppertal zuständig für das Projekt. »Da gehen die Teilnehmer drei Stunden am Tag in eine Pflegeeinrichtung, ein Krankenhaus oder zu einem Pflegedienst. Mancher kommt mit einem Termin für ein Bewerbungsgespräch aus dieser Woche«, sagt Shafik. Bei den Pflegeeinrichtungen der Stadt habe man »nur super Erfahrungen mit den Zugewanderten gemacht«. Besonders schön: In einem Pflegeheim haben die Bewohnerinnen und Bewohner ihren zugewanderten Pflegenden Sprachunterricht gegeben.

In Baden-Württemberg macht unter anderem ein Modellprojekt von sich reden, bei dem engagierte Ehrenamtler als sogenannte Einzelhelfer:innen Pflegebedürftige im Alltag unterstützen. Wer mitmachen möchte, kann sich bei einem von sieben Servicepunkten im Bundesland melden, und wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, als ›Einzelhelfer‹ aktiv werden.

Die Einsätze werden entweder vom Servicepunkt vermittelt, oder die Helfenden bringen einen ›Fall‹ losgelöst von Organisationsstrukturen selbst mit. Als Aufwandsentschädigung können Einzelhelferinnen und -helfer unter Umständen den Entlastungsbetrag, der Pflegebedürftigen zusteht, erhalten. Dabei geht es aber nicht einfach um Entlohnung, so Christine Freymuth vom Kuratorium Deutsche Altershilfe, Träger des Projekts. »Für die Menschen mit Pflegebedarf ist es eine schöne Sache, wenn sie Dankbarkeit und Wertschätzung zumindest in Form einer Aufwandsentschädigung als Gegenleistung ausdrücken können.«

Aus der Selbsthilfe geboren

Das Projekt JaDe steht für ›Unterstützung für jung an Demenz erkrankte Menschen und ihre Angehörigen‹. Martin Schicht vom NRW-Landesverband der Alzheimer Gesellschaften, Träger des Projektes, schätzt, dass rund 47.000 Menschen zwischen 40 und 59 Jahren betroffen sind. Die aus der Selbsthilfe geborene Initiative hat die Bedürfnisse der Jüngeren besonders im Auge. »Etwa die Tagespflege«, sagt Schicht. »Da sitzen unsere noch jungen Leute oft mit 80-­Jährigen zusammen, das passt natürlich nicht. Viele früh Erkrankte wollen auch nicht gleich ihren Arbeitsplatz räumen. Da braucht es vielleicht neue Jobs oder neue Aufgaben.« Weil die Erkrankten weit verteilt sind im Land, führt JaDe sie zumeist online zusammen – im JaDe-Forum, wo sie sich in festen Gruppen austauschen können, oder bei JaDe-Wissen, wo sie sich zu Zoomsitzungen zusammenschalten und mit Experten diskutieren. JaDe-Aktiv schließlich bietet Wochenendworkshops für Erkrankte und ihre Partner. Es gibt es viele Beispiele, die zeigen, dass die Baby-Boomer keineswegs nur ein Problem für die Sozialsysteme sind, sondern auch eine Chance. Denn sie sind zahlreich und viele sind bereit, zu unterstützen.

Wie sieht Prof. Dr. Heinz Rothgang, Leiter der Abteilung Gesundheit, Pflege und Alterssicherung am SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Uni Bremen, die Entwicklung der Pflege?

forum: Herr Professor Rothgang, allerorts wird die Pflegemisere beklagt. Die Zahlen sind in der Tat nicht ermutigend..

Prof. Dr. Heinz Rothgang: Das stimmt. Erstens haben wir unbesetzte Pflegestellen, etwa 20 000 bis 30 000. Zweitens haben wir zu wenig Stellen, um gut pflegen zu können. Allein in der vollstationären Langzeitpflege sind das rund 100 000 Vollzeitäquivalente, die einfach fehlen. Und drittens wird die Zahl der Pflegebedürftigen noch 30 Jahre lang steigen. Nach unseren Berechnungen steigt der Pflegekraftbedarf in Köpfen im Vergleich zu 2020 bis 2030 um 200 000, bis 2040 um 350 000 und bis 2050 um 650 000. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter.

forum: Können Pflegende aus dem Ausland Teil der Lösung sein?

Prof. Dr. Heinz Rothgang: Durchaus. Aber nicht so, dass die Pflegekräfte fertig ausgebildet aus den Philippinen oder aus Mexiko quasi ›importiert‹ werden. Vielmehr sollten wir in diese Länder gehen, dort junge Menschen ausbilden und ihnen dabei die notwendigen Sprachkenntnisse vermitteln, wobei der letzte Teil der Ausbildung dann in Deutschland erfolgen sollte. Dann sind sie nach Abschluss der Ausbildung auf das vorbereitet, was sie in Deutschland erwartet.

forum: Sie betreuen derzeit mehrere Projekte zum Personaleinsatz. Worum drehen sie sich?

Prof. Dr. Heinz Rothgang: Wir wollen in den Pflegeheimen mehr Assistenzkräfte einsetzen, die die Fachkräfte entlasten können. Die Organisationsentwicklung ist hier ein sehr wichtiger Teil der Projekte: Sie verteilt die Arbeit orientiert an den Kompetenzen der Pflegenden und den Bedürfnissen der Pflegebedürf­tigen. Zweitens setzen wir in einem Teil dieser Projekte digitale Techniken zur Arbeitserleichterung ein. Das beginnt bei der Sprachsteuerung der Dokumentationen über die computergestützte Einsatzplanung bis hin zum Putzroboter und zum intelligenten Pflegebett.

forum: 80% der Pflegebedürftigen werden zuhause gepflegt. Werfen wir einen Blick auf die heimische Pflege …

Prof. Dr. Heinz Rothgang: Die Lage ist schlecht. Viele pflegende Angehörige fühlen sich überfordert. Freundeskreise schrumpfen, die Sozialkontakte nehmen ab, viele haben keinen halben Tag in der Woche frei, andere leiden unter Schlafstörungen, werden selber krank und gehen buchstäblich am Krückstock.

forum: Wie lässt sich die Situation pflegender Angehöriger verbessern?

Prof. Dr. Heinz Rothgang: Die Pflege eines Menschen muss auf viele Schultern verteilt werden. Viele Angehörige pflegen ja ohne professionelle Hilfe. Das kann und muss sich ändern! Wir benötigen dringend Pflegearrangements, in denen Familienangehörige und Profis zusammen die Versorgung übernehmen. Außerdem bekommen wir es noch nicht richtig hin, Freunde und Nachbarschaften für die Pflege zu aktivieren. Aber es gibt Ansätze. Zum Beispiel gibt es viel Potenzial bei den ›jungen Alten‹, die noch fit sind und eine sinnvolle Tätigkeit suchen.

forum: Zum Beispiel?

Prof. Dr. Heinz Rothgang: Zum Beispiel deinNachbar e. V. in München. Dort können pflegende Angehörige Unterstützungsleistungen von Freiwilligen erhalten, die sich unter dem Dach von deinNachbar e. V. zusammengeschlossen haben. Oder nehmen Sie den Oma-Opa-Hilfsdienst in Bremen. Der war eigentlich für die Entlastung junger Eltern gedacht. Inzwischen stehen die Leih-Omas und -Opas aber auch für Entlastungangebote wie Arztfahrten oder Einkäufe bei Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen zur Verfügung.

forum: Braucht die Pflege eine Graswurzelrevolution?

Prof. Dr. Heinz Rothgang: Ja, wir brauchen alles: Wir müssen die berufliche Pflege attraktiver machen, insbesondere durch mehr Personal in den Einrichtungen. Wir müssen noch mehr Pflegekräfte ausbilden – auch im Ausland. Zudem müssen die pflegenden Angehörigen unterstützen und die Zivilgesellschaft muss stärker mobilisiert werden. Nur wenn an allen Stellschrauben gedreht wird und wenn auch die Möglichkeiten digitaler Technologien genutzt werden, haben wir eine Chance, die Pflege auch für die Zukunft sicherzustellen.

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