Ein Pflegeheim für alle Nationalitäten

Von Dorothee Buschhaus Lesezeit 4 Minuten
Vier unterschiedliche ältere Menschen umarmen sich.

Pflegeheime müssen sich darauf einstellen, dass es zunehmend mehr pflegebedürftige Menschen mit Migrationsbiografie geben wird. Das ›Haus am Sandberg‹ in Duisburg zeigt eindrucksvoll, wie kultursensible Pflege gelingen
kann.

Viele der sogenannten Gastarbeiter, die in den 1950er bis 70er Jahren nach Deutschland kamen, haben hier Wurzeln geschlagen, sich eine Existenz
aufgebaut, Familien gegründet und sind heute in einem pflegebedürftigen Alter. Schätzungen zufolge haben gut 10 % der fünf Millionen pflegebedürftigen Menschen hierzulande eine Migrationsbiografie. Prognosen gehen davon aus, dass ihr Anteil bis 2030 auf bis zu 2,8 Millionen Menschen steigen wird.

Vielfach werden Betroffene zu Hause von Angehörigen, in der Regel von weiblichen Familienmitgliedern, gepflegt. Ambulante und stationäre Angebote werden dagegen nur wenig genutzt, weil Pflege in bestimmten Kulturkreisen vorrangig als familiäre Aufgabe gilt, auch weil es Vorbehalte gegenüber dem deutschen Gesundheitssystem gibt und Angst vor finanzieller Belastung, weil Informationen fehlen, Sprachbarrieren existieren. Erst wenn die Familie die Pflege nicht mehr stemmen kann, denken die Betroffenen über einen Platz im Pflegeheim nach.

Multikulti ist Programm

Ralf Krause kennt solche Situationen nur zu gut. Der Diplom-Sozialarbeiter leitet das Haus am Sandberg in Duisburg-Homberg – ein multikulturelles Seniorenzentrum, das vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) getragen wird und zur DRK Nordrhein gGmbH gehört, einer Tochtergesellschaft des DRK-Landesverbandes Nordrhein e.V.

Das Besondere an ›seinem‹ Haus: Die Hälfte der 128 Mitarbeitenden und ein Viertel der 88 Bewohnerinnen und Bewohner haben eine Zuwanderungsgeschichte, kommen aus der Türkei, aus Spanien, Italien, Russland, Holland, Kroatien, Albanien, Syrien oder haben Wurzeln dort. Dass der Anteil der türkischstämmigen Bewohnerinnen und Bewohner höher ist, resultiert daraus, dass mehr als 20% der in Duisburg lebenden Menschen in der Türkei geboren sind.

Start als Modellprojekt

Das Haus am Sandberg ist 1994 als Modellprojekt gestartet. »Das alte Heim im Nachbarstadtteil war baufällig, die Stadt wollte nicht mehr investieren. Parallel entwickelten wir mit dem Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung und Politikberatung die Idee, ein neues Pflegeheim zu bauen, das im Grunde international ist«, erinnert sich Krause, der von Anfang an mit dabei war. Und »wir wollten alle mitnehmen bei der Planung, nicht nur die Vorstellungen der Wissenschaft berücksichtigen, sondern vor allem den Wünschen der Bewohner gerecht werden.«

Wir wollten alle mitnehmen bei der Planung, nicht nur die Vorstellungen der Wissenschaft berücksichtigen, sondern vor allem den Wünschen der Bewohner gerecht werden.

Damals hätten viele ältere Menschen Vorbehalte gehabt, insbesondere jene mit Zuwanderungsgeschichte. Erst langsam hätten sie sich geöffnet – und die Bereiche benannt, die ihnen für die künftige Pflege am Herzen lagen: »die Sprache, damit man sich verständigen kann, das Essen – dass man nicht nur vorgesetzt bekommt, was günstig ist – und religiöse Aspekte.«

Auch die Angehörigen, vor allem Kinder von älteren Menschen aus südlichen Ländern, hätten seinerzeit wichtige Hinweise beigesteuert: »In der Heimat sitzen unsere Eltern nicht hinten im Garten wie bei euch in Deutschland, sondern sie sitzen vorne vor der Tür oder an einem Platz, wo man gucken kann, wo man reden kann, aber nicht muss.« »Wir haben damals aufmerksam zugehört«, sagt Ralf Krause: »Wir haben viele Schulungen gemacht, waren mit allen Mitarbeitenden in Moscheen, in Synagogen, haben uns mit Ethnologen, Psychologen, Sozialarbeitern beraten. All das ist miteingeflossen in die Konzeption und Planung des Hauses.«

Architektur spiegelt Philosophie

1997 eröffnete das Haus am Sandberg, zunächst mit 70 Pflegebedürftigen aus dem alten Gebäude im benachbarten Stadtteil. Und alle mussten sich erstmal gewöhnen – statt verwinkelt, dunkel und beklemmend war nun alles offen, hell und großzügig. Denn die Architektur des Neubaus spiegelt die Philosophie des Konzeptes wider. Im Mittelpunkt der Atriumbereich mit großen Fensterfronten, der sich über drei Etagen erstreckt und an vielen kleineren Tischen Kommunikation und Gemeinschaft möglich macht.

Bei uns ist die bunte Mischung gewollt.

»Unsere Idee: Wir wollten nicht mehr wie früher selektieren, wollten keine separate Stationen für unterschiedliche Pflegebedürftige schaffen und auch keine Gruppen nur für Menschen mit Migrationshintergrund. Bei uns ist die bunte Mischung gewollt. Wir haben drei Wohngruppen mit unterschiedlich pflegebedürftigen Menschen und unterschiedlichen Nationalitäten. Und hier im Atrium, das ist das Spannende, da können alle zusammenkommen. Da sitzt die Türkin neben dem Deutschen, der Russe neben der Holländerin. Da prallt Demenz auf Palliativ und auf sogenanntes normales Leben. Das zu erleben, das ist Beziehungspflege und da passiert immer etwas«, weiß Krause: »Denn hier ist ja keine heile Welt, hier fliegen auch schon mal die Fetzen.«

Heimatgefühle

Das Haus am Sandberg möchte allen ein Zuhause bieten – insbesondere jenen, deren Heimat in weiter Ferne liegt. Im Foyer liegt die traditionsreiche Hürriyet direkt neben Bild-Zeitung und WAZ, und jeden Dienstag gibt es dank ehrenamtlichem Engagement türkischen Brunch in einem der drei Wohnbereiche. Mehrere türkischstämmige Damen schnippeln dann mit ihren Landsleuten und allen, die Lust dazu haben, kulinarische Spezialitäten.

Essen sei ein ganz wichtiges Thema für alle Bewohnerinnen und Bewohner. Die Einrichtung hat eine eigene Küche, auf dem Speiseplan stehen immer auch Gerichte ohne Schweinefleisch. »Unser syrischer Koch hat das besonders im Blick. Das Einzige, das wir nicht hinbekommen, ist halal Fleisch anzubieten. Das scheitert an Zulieferern und Kühlketten«, so Krause.

Natürlich richtet das Haus auch christliche und muslimische Feste aus, und dann wird gefeiert – mit Bewohnern, mit Angehörigen, Mitarbeitenden und Nachbarn. Letztere seien nach anfänglichem Misstrauen längst zu Freunden geworden.

Auch gibt es einen geschmackvoll gestalteten, bunt gekachelten Gebetsraum für Bewohnerinnen, Bewohner und Mitarbeitende muslimischen Glaubens. »Unsere kleine Mescid«, sagt Krause, »ist quasi das Symbol für unser Projekt«. Doch würde der Gebetsraum eher wenig genutzt, womöglich »weil die Idee, die wir in unseren Köpfen haben, dass gerade ältere Menschen besonders gläubig sind, sich in unserer Einrichtung nicht bestätigt und viele ihren Glauben nicht mehr so praktizieren.«

Den Nachwuchs fördern

Das Konzept des offenen, toleranten Hauses geht auf: Die Warteliste ist lang, Menschen aus dem gesamten Ruhrgebiet fragen nach freien Pflegeplätzen, und auch um Fachkräftemangel muss sich Ralf Krause, anders als viele andere Einrichtungen, nicht sorgen.

»Wir bilden«, so Krause, »immer auch unseren eigenen Nachwuchs aus. Wir kooperieren mit Schulen, haben regelmäßig Praktikanten, Studenten, junge Menschen im Freiwilligen Sozialen Jahr, im Bundesfreiwilligendienst, haben Auszubildende für die Pflege, Verwaltung und Küche. Dazu arbeiten wir mit 40 Ehrenamtlichen, die insbesondere unsere Betreuungskräfte unterstützen.«

»Ich hab mich hier ganz schnell wohl- und ernstgenommen gefühlt« sagt Latifa Buduri. Nach einem vierwöchigen Praktikum hat die 19-Jährige ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Einrichtung gemacht und ist nun in der Ausbildung zur Pflegeassistenz. Als Tochter einer polnischen Mutter und eines albanischen Vaters hat auch sie wie die Hälfte der Mitarbeitenden einen Migrationshintergrund und weiß um die Situation und Sorgen vieler Bewohnerinnen und Bewohner mit ausländischen Wurzeln.

32 Pflegebedürftige leben zurzeit im Wohnbereich 06, den Buduris ›Chefin‹ Susanne Schawert leitet. Sie ist seit 17 Jahren im Haus und hat viele Entwicklungen miterlebt: »Der Druck von außen ist größer, aber die Arbeit ist vielseitiger geworden«, findet sie. Unabhängig davon, welcher Nationalität die Betroffenen angehören – die pflegerischen Aufgaben seien immer die gleichen, nur selten gebe es besondere kulturell bedingte Wünsche wie zum Beispiel rituelle Waschungen bei einem Todesfall. »Ansonsten«, so sagt sie, »verstehen wir uns über alle Grenzen hinweg, manchmal reden wir mit Händen und Füßen, manchmal dolmetschen die Kolleginnen – das klappt gut.«

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