Ab wann ist man eigentlich alt? Wissenschaftler haben das in einer groß angelegten Studie untersucht und herausgefunden: Altsein beginnt immer später.
Die Midlife-Crisis war früher mit vierzig, heute kauft man sich da ein kostspieliges komfortables Gravelbike und nennt es Fitness. Oder man beginnt mit dem Kraft- und Konditionierungsprogramm CrossFit, was vielleicht weniger nach Senioren-Gymnastik klingt, aber womöglich die Gefahr birgt, sich mit fünfzig die erste ernsthafte Sportverletzung einzufangen.
Ob reich, ob arm, ob klug, ob dumm: Alt werden wir alle. Aber ab wann genau zählt man offiziell zum alten Eisen? Mit sechzig? Achtzig? Oder erst, wenn der Bundespräsident zum Geburtstag gratuliert? Um das herauszufinden, starteten Forschende der Humboldt-Universität Berlin eine Umfrage, die fast so lange dauerte wie ein durchschnittliches Altsein selbst: 1996 klingelten die Telefone von 14000 zufällig ausgewählten Deutschen quer durch die Republik das erste Mal. Die Forscher fragten: »Ab wann würden Sie jemanden als alt bezeichnen?« Eine Frage, so existenziell wie: ›Was ist der Sinn des Lebens?‹ Und es folgten weitere: Fühlen Sie sich jünger, älter, genauso alt wie Ihr wirkliches Alter? Sind Sie einsam? Sportlich? Und, wie läuft’s sonst so? Ausbildung, Gesundheit, Finanzen, soziales Umfeld – alles musste raus.
Alle sechs Jahre klingelten die Telefone, 2021 war Schluss, 2024 wurden die Ergebnisse veröffentlicht. Und was kam dabei raus? Dass Altsein so eine Sache ist, die man gerne ein bisschen wegschiebt. Ein 65-Jähriger sagt, alt ist man ab 74. Ein 74-Jähriger meint, ab 77. Und wenn der 65-Jährige irgendwann 70 wird? Dann beginnt das Altsein plötzlich erst mit 75. Es ist wie mit der Diät, die immer erst nach dem Wochenende anfängt.
Männer und Frauen verorten Altsein unterschiedlich
»Es ist unklar, inwieweit der Trend zum Aufschieben des Alters eine positivere Einstellung gegenüber älteren Menschen und dem Altern widerspiegelt oder eher das Gegenteil«, sagt Markus Wettstein, Hauptautor der Studie. Vielleicht ist es auch einfach der gute alte Trick, sich mit noch älteren Menschen zu vergleichen. Neben einem Neunzigjährigen fühlt sich doch jeder wie ein Teenager.
Dann gibt es da noch die Geschlechterunterschiede. Für Frauen, so die Studie, beginnt das Altsein im Schnitt 2,4 Jahre später als für Männer. Liegt es daran, dass Frauen im Schnitt fünf Jahre länger leben als Männer? Oder daran, dass sie mehr Altersdiskriminierung erleben? Es bleibt Spekulation.
Was sich aber klar sagen lässt: Die Wahrnehmung des Altseins hat sich verschoben. Früher, in den 1990ern, sagte ein Sechzigjähriger: »Alt ist man mit 73.« Ein Sechzigjähriger im Jahr 2021 hingegen sagt: »Alt? Erst mit 75.« Pro Jahrzehnt rutscht das Altsein um 0,8 Jahre nach hinten. Die Gründe? Höhere Lebenserwartung, bessere Medizin, späterer Renteneintritt, Instagram? Wahrscheinlich aber auch einfach nur die Angst vorm Altern. Oder die schlichte Tatsache, dass man jenseits der sechzig heute immer noch Dinge macht, die vor fünfzig Jahren schlichtweg undenkbar waren. Skifahren mit 65? Normal. Noch ein Studium anfangen mit siebzig? Wieso nicht?
Ost, West und das gefühlte Alter
Und dann ist da noch die Sache mit den regionalen Unterschieden. Im Osten Deutschlands fühlt man sich offenbar früher alt als im Westen. Warum? Vielleicht, weil das Leben dort anstrengender war. Vielleicht auch, weil nach der Wiedervereinigung viele junge Menschen aus den östlichen Bundesländern abgewandert sind. Ganz genau weiß das keiner. Wer krank oder einsam ist, auch das konnte die Studie zeigen, fühlt sich ebenfalls früher alt.
Kurz gesagt: Alt ist eine bewegliche Zielscheibe. Man ist immer so alt, wie man sich fühlt – oder wie es einem das Finanzamt bescheinigt. Vielleicht sagt uns diese Studie nicht nur etwas über das Altsein, sondern auch darüber, wie sehr wir alle versuchen, es zu verdrängen.