Ruf bitte nicht an!

Von Jens Lubbadeh Lesezeit 2 Minuten
Comic-artige bunte Grafik: Frau blickt ängstlich auf ihr klingelndes Telefon.

Kennen Sie das auch? Wenn das Handy klingelt, zucken Sie zusammen. Ist das normal? Ja, ist es. Leider.

Ich habe einen Freund, nennen wir ihn Thomas. Er ist einer der wenigen Menschen, die Text-Messenger verachten. Und nicht nur WhatsApp – Signal, Threema, Telegram – Thomas hasst sie alle, sogar SMS. Wenn er kommunizieren will, dann will er sprechen. Wenn mein Telefon klingelt und im Display steht Thomas, weiß ich, dass ich unter 30 Minuten nicht wegkommen werde. Während es klingelt, frage ich mich: Habe ich jetzt die Kraft und die Lust, eine lange nicht oberflächliche Unterhaltung zu führen? In zwei von drei Fällen lautet die Antwort »Nein«, und ich drücke ihn weg. Ja, dafür schäme ich mich.

Früher war es einfach: »Ruf doch mal an!« ermunterte die Telekom 1994. Ich erinnere mich an ganze Nachmittage und Abende, die ich am Telefon verbracht habe, zum Verdruss meiner Eltern oder WG-Mitbewohner. Jedes Klingeln war eine Überraschung, denn kein Display verriet, wer anrief. Und heute? Es wird gewischt, getextet, geherzt und weitergeleitet. Aber gesprochen? Fehlanzeige. 40% der Deutschen schreiben Freunden und Familienmitgliedern lieber eine Nachricht, ergab eine repräsentative Umfrage des Digitalverbands Bitkom 2025 unter knapp 1.000 Menschen hierzulande. Bei den 16- bis 29-Jährigen, also der Generation Z, sind es bereits mehr als die Hälfte. In den USA werden Menschen unter 40 schon als ›Generation Mute‹ bezeichnet – ›Generation Stumm‹.

Vorwarnung vor dem Anruf?

Die Telefonier-App ist zu einem Statisten auf dem Smartphone verkommen. Vermutlich weiß die Generation Z nur noch mit Ach und Krach, wofür dieses archaische Hörersymbol steht. Was sich mit dem kometenhaften Aufstieg des eigentlich nur als Notfallkommunikationssystem gedachten Short Message Service (SMS) in den frühen 1990ern abzeichnete, ist zum globalen Standard geworden: Reden ist Silber, Texten ist Gold. Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich mag Thomas und ich unterhalte mich eigentlich gerne. Was mich stresst, ist der Verlust der Kontrolle. Jedes Klingeln ruft: Du musst! jetzt! Zeit! haben! Ich stehe nicht allein da: Rund ein Drittel der Deutschen kündigt den Anruf in der Regel vorab bei Freunden und Familie an. Und will umgekehrt auch vorgewarnt werden, wie die Bitkom-Umfrage ergab.

Jedes Klingeln ruft: Du musst! jetzt! Zeit! haben!

Telefonieren ist aber nicht nur unpopulär, es ist sogar angstbesetzt: 36% der Befragten hat schon einmal aus Angst vor dem Telefonieren notwendige Anrufe aufgeschoben. Mit 44% besonders betroffen ist hier wieder die Generation Z. Dass die Älteren ungerne telefonieren, könnte daran liegen, dass sie aus der Übung sind. Die digitale Generation Z ist nicht nur aus der Übung. Ihr mangelt es vielleicht gar an entscheidenden Kompetenzen. Beim Telefonieren wie beim Texten kann die fehlende Mimik und Gestik zu Missverständnissen führen. Aber der entscheidende Unterschied: Telefonieren ist Kommunikation in Echtzeit. Man muss spontan reagieren, kann seine Worte nicht in aller Ruhe abwägen, feinschleifen, mit Emojis garnieren. Ein verbaler Hochseilakt ohne Netz und doppelten Boden, der Sozialkompetenz erfordert. Für eine Generation, die mit Emojis, Korrekturfunktion und Like-Button sozialisiert wurde, muss das herausfordernd sein.

Wenn Telefonphobie droht …

Die Angst vor dem Telefon kann überhand nehmen: Telefonphobie ist eine Spielart der sozialen Angst. Direkte Zahlen zur Häufigkeit gibt es nicht. Eine Umfrage unter britischen Büroangestellten ergab 2019, dass 76% der Millennials, also die Jahrgänge 1981 bis 1996, ängstliche Gedanken haben, wenn das Telefon klingelt. Bis zu 17% der Jugendlichen könnten eine Telefonphobie haben, vermuten Psychiaterinnen und Psychiater.

Wenn ich ehrlich bin, bin ich auch schon phonophob. Ich zucke zusammen, wenn mein Telefon klingelt, und nicht nur, wenn Thomas anruft. Dazu die Schuldgefühle, wenn ich den Anruf wegdrücke oder sogar bewusst ausklingeln lasse, um den Anrufenden nicht vor den Kopf zu stoßen. Ich glaube, ich werde Thomas gleich mal zurückrufen. Ob ich ihn vorwarnen sollte? Am besten per SMS?

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