Zwanzig Jahre nach der gesetzlichen Verpflichtung von Krankenkassen, Abrechnungsbetrug und Korruption nachzugehen, fordern Fachleute ein effektiveres Vorgehen im gesamten System.
Die Ausgaben im Gesundheitswesen liegen in Deutschland bei rund 498 Milliarden Euro jährlich (Stand 2022) und steigen weiter. Da verwundert es nicht, dass auch diese Branche mit Betrug zu kämpfen hat: Der Apotheker, der jahrelang für Krebskranke Infusionslösungen herstellt, die keine oder zu wenig Wirkstoffe enthalten. Die Allgemeinärztin, die ›Luftleistungen‹ im Wert von über 300 000 Euro abrechnet. Der Pflegedienst, bei dem Azubis oder Praktikanten Pflegebedürftige versorgen, jedoch qualifizierte Fachkräfte die Leistungsnachweise unterschreiben. Der Versicherte, der über drei Jahre 24 Arztpraxen aufsucht, um an größere Mengen eines Psychopharmakons zu gelangen.
Seit dem 1. Januar 2004, also seit gut 20 Jahren, sind die Krankenkassen gesetzlich verpflichtet, gegen Fehlverhalten im Gesundheitswesen, also zum Beispiel Abrechnungsbetrug oder Korruption, vorzugehen. Kranken- und Pflegekassen haben seither Bekämpfungsstellen eingerichtet, die Hinweisen auf Unregelmäßigkeiten nachgehen. Zwar gelingt es heute häufiger als etwa noch vor zehn Jahren, Betrügereien aufzuklären, fasst die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers GmbH (PwC) die Ergebnisse einer Befragungsstudie zusammen. Doch auch das sogenannte ›Dunkelfeld‹, also die Straftaten, die unerkannt bleiben, dürfte sich seit Einführung des Gesetzes weiter vergrößert haben.
»Grundsätzlich sind die Kranken- und Pflegekassen sowie die Kassenärztlichen Vereinigungen zuständig für die Ermittlung«
Staatsanwaltschaft ermittelt
»Grundsätzlich sind die Kranken- und Pflegekassen sowie die Kassenärztlichen Vereinigungen zuständig für die Ermittlung«, erklärt Olaf Schrodi, Bereichsleiter Behandlungsfehler und Fehlverhalten bei der AOK PLUS. Diese umfasse jedoch nur eine erste Prüfung, ob sich ein Verdacht erhärte. In den meisten Fällen erhalte eine der genannten Stellen einen Hinweis, dass eine Form von Bestechung oder Betrug vorliegen könne.
»Ein externer Hinweisgeber ist zum Beispiel der 21 Versicherte, dem Dinge komisch vorkommen, die er zum Beispiel auf seiner Patientenquittung entdeckt hat, etwa die erfolgte Abrechnung von tatsächlich nicht erbrachten Leistungen«, sagt Dr. Stephan Meseke, Leiter der Stelle zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen beim GKV-Spitzenverband. Hinweise können aber auch von Angestellten einer Arztpraxis kommen, von Strafverfolgungsbehörden oder den ›Leistungserbringern‹ selbst, also etwa Ärztinnen und Ärzten, Hebammen, Apotheken sowie dem Medizinischen Dienst. Die Medizinischen Dienste prüfen zum Beispiel im Rahmen der Qualitätsprüfungen auch die Abrechnungen von Pflegediensten. Gibt es dabei oder bei Pflegebegutachtungen und medizinischen Gutachten Auffälligkeiten, die auf kriminelles Vorgehen hindeuten, informieren sie sofort die Kranken- und Pflegekassen. Erhalten die Kassen entsprechende Hinweise, prüfen erfahrene Mitarbeitende, ob der Verdacht gerechtfertigt ist und sich ein Anfangsverdacht auf eine strafbare Handlung ergibt, erklärt Olaf Schrodi. »Ist dies der Fall, wird die zuständige Staatsanwaltschaft unterrichtet, welche die weiteren Ermittlungen führt.«
Schadenssumme auf hohem Niveau
Die Prüfstellen der Krankenkassen berichten alle zwei Jahre über ihre Arbeit und Ergebnisse. Daraus stellt der GKV-Spitzenverband einen Gesamtüberblick aller Krankenkassen zusammen. Der aktuelle, bislang siebte Fehlverhaltensbericht wurde im März 2023 veröffentlicht. Demnach sank entgegen des Trends der Vorjahre die Anzahl der Hinweise auf Fehlverhalten von 42 350 in den Jahren 2018/2019 auf 39 600 in den Jahren 2020 und 2021 – ein Rückgang, der offenbar auf die Corona-Pandemie zurückzuführen ist. In dieser Zeit konnten die Medizinischen Dienste zeitweise weniger Prüfungen durchführen. Außerdem habe die Pandemie die Hinweisprüfung und Ermittlung von Neufällen verzögert sowie die Verfahrensdauer der verfolgten Bestandsfälle verlängert, schätzen Kranken- und Pflegekassen die Situation ein.
»Trotz des Pandemie-bedingten Rückgangs der eingegangenen Hinweise bewegt sich die Schadenssumme auf einem sehr hohen Niveau«
»Trotz des Pandemie-bedingten Rückgangs der eingegangenen Hinweise bewegt sich die Schadenssumme auf einem sehr hohen Niveau«, sagt Stephan Meseke. Der ermittelbare Schaden lag laut des aktuellen Berichts bei rund 132 Millionen Euro. Nur knapp 60 Millionen Euro konnten zurückgeholt werden, es bleibt also ein erheblicher Schaden. Man müsse außerdem vermuten, dass das nur die Spitze des Eisbergs sei, so Meseke.
Zwei weitere Zahlen unterstützen diese Einschätzung: Internationale Studien errechnen für andere Länder, wie Großbritannien, die USA, Frankreich, Belgien oder Australien, einen Schaden, der 5 bis 10% der Gesamtausgaben im Gesundheitswesen ausmacht. Die Statistiken des Bundeskriminalamtes zeigen zudem für das Jahr 2021 einen Anstieg der Fälle von Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen um das Dreifache. Allein durch Manipulationen rund um Corona-Bürgertests ist ein Schaden von mehr als 134 Millionen Euro entstanden.
Alle Leistungsbereiche der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen sind von Betrügereien betroffen. Zuletzt habe sich jedoch die häusliche Krankenpflege zu einem Brennpunkt des Fehlverhaltens entwickelt, sagt GKV-Experte Meseke. Die entstandenen Schäden in diesem Bereich lägen bei rund 30 Millionen Euro. Die privaten Krankenversicherungen sehen den Schwerpunkt woanders: Hier seien die Versicherten selbst häufig die Täter.
Effektiveres Vorgehen gefordert Die Zahlen deuten insgesamt darauf hin, dass es den Krankenkassen nach wie vor schwerfällt, »Abrechnungsbetrug in den beiden Haupttätergruppen aus Pflege und Versicherten zu bekämpfen«, schlussfolgert die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC. Die Aufdeckung von Betrug benötige ein effektiveres Vorgehen. Insgesamt gebe es beispielsweise zu wenig Spezialeinheiten bei Polizei und Staatsanwaltschaften für Betrug und Korruption im Gesundheitswesen, kritisiert der GKV-Spitzenverband. Nur sieben Bundesländer haben entsprechende polizeiliche Spezialdienststellen.
Wichtig sei außerdem ein besserer Schutz für Hinweisgebende. Seit zweieinhalb Jahren betreibt die Zentralstelle zur Bekämpfung von Betrug und Korruption im Gesundheitswesen bei der Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg hier eine vorbildliche Plattform, bei der nicht nur die Hinweise anonym empfangen werden können. Auch Rückfragen sind mit Hilfe eines anonymen Postkastens möglich.
Computergestützte Verfahren sollen helfen
Fachleute fordern außerdem schon seit langem eine ›Dunkelfeldstudie‹, die hilft, besser einzuschätzen, wie viel Geld tatsächlich in dunklen Kanälen versickert, »statt sinnvoll in der medizinischen Versorgung eingesetzt zu werden«, sagt Gernot Kiefer, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des GKV-Spitzenverbands.
Große Hoffnung wird auch in computergestützte Verfahren gesetzt: Die Politik müsse den rechtlichen Rahmen dafür schaffen, im Zeitalter der Digitalisierung auch den Einsatz von künstlicher Intelligenz und maschinellen Lernens zu ermöglichen, sagt Dr. Susanne Wagenmann, Verwaltungsratsvorsitzende des GKV-Spitzenverbands.
Einer, der auf diesem Gebiet forscht und verschiedene hilfreiche Computer-Tools entwickelt, ist Andreas Wagner, Mathematiker von der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften an der Hochschule Karlsruhe mit dem Schwerpunkt »Applied Data Science«. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen des Fraunhofer Instituts für Techno- und Wirtschaftsmathematik (ITWM) hat er beispielsweise ein Programm entwickelt, das Leistungsnachweise aus dem Pflegebereich automatisiert verarbeitet. »Die Auswertung ist extrem zeitaufwendig. Eine Polizeikraft kann bei der manuellen Erfassung schon gut einmal ein Jahr lang damit beschäftigt sein. Mit der Software geht es wesentlich schneller«, sagt Wagner. Die Daten wären nicht nur rascher auswertbar. Man könne gegebenenfalls zügig weiteres Beweismaterial konfiszieren. »Braucht die Auswertung jedoch Monate oder gar Jahre, sind die Täter längst über alle Berge«, so Wagner.