Gerade bei der Pflegebegutachtung geraten Mitarbeitende der Medizinischen Dienste immer wieder in heikle Situationen – sie werden verbal angegriffen oder physisch bedroht. Dank umfangreicher Schulungen können Eskalationen meistens vermieden werden.
»Es war meine erste Pflegebegutachtung an dem Tag. Kleine Seitenstraße, graues Haus, dritter Stock rechts. Mir öffnete der Sohn des Versicherten, ein Schrank von einem Mann, unfreundlich, ungepflegt. Nichts, was mich aus der Ruhe bringt. Aber als er hinter mir die Tür abschloss, einmal, zweimal, war mein erster Gedanke: Ich sitz in der Falle. Wie komme ich hier wieder lebend raus?« Noch heute spürt man in der Stimme von Susanne (46, Name geändert), seit vielen Jahren Pflegefachkraft des Medizinischen Dienstes Bayern, die Anspannung.
Notfalls aufs Handy drücken
»Ich weiß noch genau, meine Worte kamen wie antrainiert: ›Sie schließen jetzt die Tür wieder auf. Sofort. Sonst breche ich den Termin ab und dann wird keiner begutachtet‹, habe ich erstaunlich ruhig gesagt. ›Wenn es sein muss, werde ich auch die Polizei rufen. Aber lassen Sie uns lieber gemeinsam nach Ihrem Vater schauen.‹ Es herrschte kurz Ruhe, gefolgt von so etwas wie: ›War nicht so gemeint‹. Und dann wurde es doch noch eine fast ganz normale Begutachtung «, erzählt Susanne. Meist reicht wie in diesem Fall bereits die Ankündigung des Abbruchs für eine Deeskalation. Alternativ wäre der zweite Schritt das sofortige Verlassen des Raumes. Ist dies nicht möglich, wäre der dritte Schritt dann ein Notruf. Auch deswegen haben alle Mitarbeitenden in der Pflegebegutachtung beim Medizinischen Dienst Bayern ein Diensthandy mit Notruffunktion.
Beleidigt, beschimpft, bedroht
»Gewalt fängt bereits bei verbalen Übergriffen an. Sie geht weiter über eine aggressive Grundhaltung und konkrete Drohungen bis hin zu körperlicher Gewalt oder Bedrohungen«, sagt Dr. Marianna Hanke-Ebersoll, Leiterin Bereich Pflege des Medizinischen Dienstes Bayern. Bedrohlich wird es vor allem in Begutachtungssituationen bei Hausbesuchen, wenn die Wohnungstür abgeschlossen, der Gutachter bedrängt, bedroht oder im Anschluss verfolgt wird. Auf andere Mitarbeitenden wird auf andere Weise Druck ausgeübt: Die Mitarbeitenden aus dem zentralen Telefonservice werden zum Beispiel häufig verbal beleidigt und beschimpft. Und oft wird auch mit dem Einschalten von Anwalt, Presse oder Vorgesetztem gedroht.
Gewalt fängt bereits bei verbalen Übergriffen an.
Die Folgen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind teilweise gravierend und können von Demotivierung über Stress bis hin zu Angstzuständen oder Schlafproblemen reichen. »In die ersten Begutachtungen nach diesem Vorfall ging ich mit einem komischen Gefühl, habe aber enorm von meiner langen Berufserfahrung profitiert. Auch wenn sich so etwas bislang bei mir nicht wiederholt hat, bin ich noch vorsichtiger, weil ich weiß, wie schnell sich eine bedrohliche Situation entwickeln kann«, sagt Susanne.
Präventionskonzepte
Da sich kritische Begutachtungen nicht im Vorfeld vorhersagen lassen, hat der MD Bayern, wie andere Medizinische Dienste auch, für seine Mitarbeitenden Präventionskonzepte etabliert. In den Schulungsangeboten zum Umgang mit kritischen Situationen lernen die Mitarbeitenden, wie sie verbal deeskalieren und mit Bedrohungen umgehen können. Regelmäßige Kommunikationstrainings, Übungen zur Gesprächsführung und Module zur Konfliktreduktion helfen den Mitarbeitenden, schwierige Situationen vorzubeugen und zu meistern. Ein Fokus des MD Bayern liegt dabei auf dem Konzept der gewaltfreien Kommunikation: Zwei Mitarbeitende des MD Bayern sind darin ausgebildete Coaches und schulen diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die im Bereich Pflegebegutachtung sowie im Telefonservice arbeiten.
Auch, wenn eine schwierige Begutachtung abgeschlossen werden konnte, Situationen, wie Susanne sie erleben musste, werden auf jeden Fall im Nachgang erfasst: Nach jedem kritischen Begutachtungstermin löst die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter eine interne Meldung via EMail aus, auf deren Basis sie dann den Vorfall mit der Führungskraft bespricht. Dabei wird zuerst geklärt, ob und wie sich die kritische Situation als objektive Bedrohung einordnen lässt. Wenn ja, wird dies als ›Meldung Bedrohungsfälle‹ an das Ressort Datenschutz / Sicherheit / Compliance gemeldet. Wurde die Begutachtung abgebrochen, wird zusätzlich die Kranken- bzw. Pflegekasse über den ›Abbruch wegen schwerwiegender Gründe‹ oder ›Begutachtung nicht möglich wegen Gewaltandrohung‹ informiert.
Tatsächlich mehr Fälle?
»Wenn man es positiv betrachtet, so ist die Zahl von jährlich über 300 intern gemeldeten bedrohlichen Situationen in den Corona-Jahren auf nur noch 130 im Jahr 2024 zurückgegangen«, fasst Hanke-Ebersoll die Entwicklung zusammen, betont aber: »Da unsere Gutachterinnen und Gutachter viele heikle Situationen in der Begutachtung allein meistern und wir nur die gemeldeten Vorfälle erfassen, dürfte die tatsächliche Zahl der bedrohlichen Situationen höher liegen.«
Fast immer gingen die Bedrohungen von Angehörigen aus und nicht von den zu Begutachtenden.
Alle beim Medizinischen Dienst Bayern in den letzten Jahren gemeldeten Vorfälle betrafen den Bereich der Pflegebegutachtung. Und fast immer gingen die Bedrohungen von Angehörigen aus und nicht von den zu Begutachtenden. In einem besonders bedrohlichen Fall lag während der Begutachtung eine Pistole auf dem Tisch – angeblich nur, »um die Waffe später zu reinigen«. Diese Argumentation erschwerte eine strafrechtliche Verfolgung. Dies gilt auch bei möglichen Sachbeschädigungen: Kratzer am Dienstfahrzeug der MD-Mitarbeitenden konnten noch nie einem Angehörigen oder Versicherten nachgewiesen werden. Anders war eine Situation Ende vergangenen Jahres: Nach dem Hausbesuch hat ein Angehöriger eine Gutachterin bedroht und sie während ihrer Heimfahrt bis zu ihrer Haustür verfolgt. Da die Gutachterin den Namen des Täters kannte, konnte sie bei der Polizei Anzeige erstatten. Weitere Bedrohungen blieben in diesem Fall aus – jedenfalls in der realen Welt. Denn Bedrohungen und Beschimpfungen von Mitarbeitenden verlagern sich zunehmend in die virtuelle Welt.
Digitale Gewalt
Unter dem Deckmantel digitaler Anonymität werden im Internet alle Formen von Beleidigungen, Bedrohungen, Bloßstellungen oder Belästigungen in Windeseile verbreitet. Dabei muss man klar unterscheiden zwischen negativen Kommentaren über die Organisation ›Medizinischer Dienst‹ und über einzelne namentlich genannte Mitarbeitende in sozialen Netzwerken.
Bedrohungen und Beschimpfungen von Mitarbeitenden verlagern sich zunehmend in die virtuelle Welt.
Geht es um negative Google-Bewertungen zur Organisation, reagiert der Medizinische Dienst Bayern zum Beispiel betont sachlich und weist auf entsprechende Dialog-Angebote für gezielte Beschwerden hin. Wird jedoch eine Gutachterin oder ein Gutachter im Netz beschimpft, indem zum Beispiel unterstellt wird, sie oder er habe fehlerhaft gearbeitet, und wird dabei der Name genannt, kann die oder der Betroffene rechtlich gegen die Verletzung des Persönlichkeitsrechtes vorgehen – nicht jedoch der Arbeitgeber. Gleichwohl unterstützt der MD Bayern dabei seine Beschäftigten nach Kräften, unter anderem mit juristischem Beistand und vorformulierten Löschungsanträgen. Obwohl das Persönlichkeitsrecht deutlich schwerer wiegt als das Interesse einer Organisation, ist die Durchsetzung des Rechtsanspruches langwierig. Nur bei einem Viertel der Mitarbeitenden des Medizinischen Dienstes Bayern, die 2024 gegen die Nennung ihres Klarnamens vorgegangen sind, ist bis dato eine Löschung des diffamierenden Google-Beitrages erfolgt. Gerade online bleiben Attacken gegen Mitarbeitende der Medizinischen Dienste daher ein ›gewalt-iges‹ Problem …