"Gewalt zu bremsen müssen wir lernen"

Von Dorothee Buschhaus Lesezeit 5 Minuten
Symbolbild: heftiges Gewitter mit vielen Blitzen über Wasser

Die Medienberichterstattung suggeriert, dass Gewalt und Gewaltbereitschaft deutlich zunehmen. Ist das so? Wenn ja, warum? Und wie lässt sich Gewalt vorbeugen? forum hat nachgefragt bei Prof. Dr. Andreas Zick, Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung und wissenschaftlicher Leiter der Konfliktakademie (ConflictA) an der Universität Bielefeld.

Hat Gewalt im Gesundheitswesen zugenommen?

Ja, das zeigen die Daten, die wir von einzelnen Einrichtungen, aber auch aus der polizeilichen Kriminalstatistik und von den Ärztekammern haben. Wir sehen: Das Ausmaß ist vor allem da groß, wo es ein hohes Hass- und Gewaltpotenzial gab und wo es zugleich in den letzten Jahren keine Gewaltpräventionsmaßnahmen gab. Wir müssen aber auch den Zusammenhang zur gesellschaftlichen Entwicklung berücksichtigen: In der Gesellschaft insgesamt haben wir eine höhere Akzeptanz und Billigung der Bereitschaft zur Gewalt als Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen. Das schlägt dann auch in medizinischen Einrichtungen auf.

Wie kommt das?

Ich sage nicht: Es gibt mehr Menschen, die frustriert sind, und deswegen sehen wir so viel Aggressionen. Das wäre eine zu einfache psychologische Frustrations- Aggressions-These, die davon ausgeht, dass Aggression immer eine Folge von Frustration ist. Es gibt vielmehr verschiedene Erklärungsebenen, die unterschiedliche Einflüsse hervorheben. Einerseits gibt es eine historische Gewaltentwicklung. Das heißt, das Ausmaß, in dem Gesellschaften an Zusammenhalt verlieren, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Verdrängungswettbewerbe stärker werden. Je weniger bestimmte Normen, die Gewalt bremsen, gesellschaftlich verankert sind, je mehr sehen wir Gewalt an verschiedensten Orten.

Je weniger bestimmte Normen, die Gewalt bremsen, gesellschaftlich verankert sind, je mehr sehen wir Gewalt an verschiedensten Orten.

Dann gibt es auf anderer Ebene soziologische strukturelle Faktoren. Wir sehen Gewalt stärker dort, wo die Lebensverhältnisse prekär sind. Wenn die Taktung in medizinischen Einrichtungen hoch ist, mehr Patientinnen und Patienten mit weniger Zeit und Raum versorgt werden, dann führt das in prekären Milieus häufiger dazu, dass Menschen versuchen, mit Gewalt an ihr Recht zu kommen. Brechen andere Versorgungen weg, gibt es z. B. keine Hausarztpraxen und rennen die Leute in die Krankenhäuser, werden Belastungen zu Stress und die Gewalt liegt näher. Und es gibt eine Ebene, die psychologische wie sozialpsychologische Faktoren deutlich macht: Gewalt vererbt sich. Wer Gewalt erfahren hat, wird sie auch eher anwenden. Stresssituationen und individuelle Belastungen erleichtern Gewalt und schließlich kann Gewalt als Ausdruck von Gruppenzugehörigkeiten und Identitäten ausgelöst werden. Wer sich als Wutbürger mit anderen identifiziert, wird Gewalt leichter rechtfertigen als andere.

Prof. Dr. Andreas Zick, IKG Universität Bielefeld
© IKG Universität Bielefeld

Haben die Menschen heute andere Erwartungen?

Viele Menschen verstehen das Gesundheitssystem als Dienstleistungsverhältnis: Ich bin hier, bin Patientin / Patient oder Angehöriger. Ich bin im Stress, geh in die Praxis, Klinik oder ins Pflegeheim, und die Mitarbeitenden, die Ärztinnen, Ärzte oder Pflegekräfte sind Dienstleister, die genau das tun sollen, was ich möchte. Das heißt, sie werden gar nicht mehr wahrgenommen als Personen mit höherer Kompetenz, sondern ich setze meine Interessen durch, weil ich jetzt und hier Kundin oder Kunde bin. Und es gibt psychologische Faktoren – das heißt, der Gewalttäter trägt eine bestimmte Disposition, eine Neigung zur Aggression in sich, die immer stärker geworden ist. Und schließlich gibt es mehr Menschen mit psychischen Problemlagen – ganz zu schweigen von Gewalttaten, die nach Drogenkonsum geschehen.

Worauf müssen sich die Einrichtungen einstellen?

Wir sehen: Da, wo Gewalt passiert ist, werden die Gewaltbremsen schon im Vorfeld erhöht. Einrichtungen mit einem guten Gewaltschutz haben ein umfassendes Sicherheitskonzept, haben Mitarbeitende sensibilisiert und in Aggressions-/ Gewaltprävention und Deeskalation geschult. Verpflichtend ist das nicht, und es darf auch nicht sein, dass sich das nur die großen Häuser leisten können. Vielmehr sollte und könnte es ein System geben, das Unterstützung für alle garantiert. Von vielen Pflegeeinrichtungen wissen wir, wenn da die Taktung zunimmt, die Ausbildung leidet, wenn Personalmangel durch Zeitarbeit kompensiert wird, wenn immer mehr Leute reinkommen, das Tempo steigt, dann erhöht dies die Stressmomente für Mitarbeitende. Solche Stressmomente machen Systeme anfälliger für Gewalt und sind schwer wieder einzufangen. In großen Kliniken z. B. haben wir heute einen Publikumsverkehr, der viel stärker kontrolliert werden müsste – am besten nicht von privaten Sicherheitsdiensten, denen oft das entgeht, was Polizisten weniger übersehen: unterlassene Hilfeleistung.

Der Schutz vor Gewalt geht also jeden Einzelnen an?

Genau, aber es ist, als geraten unterlassene Hilfeleistung und mangelnde Zivilcourage völlig aus dem Blick. Dabei sind wir zur Zivilcourage verpflichtet und man kann sie systematisch erlernen. In speziellen Trainings lernt man, aufmerksam zu sein und zu bleiben, auch wenn z. B. eine aggressive Person in ein überfülltes Wartezimmer kommt und wir dadurch abgelenkt sind, dass wir gleich selber dran sind. Wir können auch lernen, Notsituationen richtig zu interpretieren: Ist jemand aggressiv oder nur genervt oder steigert er sich gerade in Gewalt hinein? Denn es gibt immer eine Eskalationsphase. Bei der Interpretation denken wir z. B.: Da sind so viele Leute in der Klinik mit weißen Kitteln, die müssen kompetent sein.

Dabei sind wir zur Zivilcourage verpflichtet und man kann sie systematisch erlernen.

Wenn jemand hier aggressiv ist und niemand reagiert, sehen wir die Verantwortung zu handeln bei den anderen, nicht bei uns, und wir unterstellen, dass Ärztinnen und Ärzte automatisch mit Aggressionen umgehen können – was für ein Quatsch, wenn sie selbst Opfer sind. Zu guter Letzt geht es auch immer um das angemessene Handeln, also das Lernen von Hilfestrategien: Wie kann man z. B. ein Muskelpaket von 1,90 Metern stoppen, wenn man körperlich unterlegen ist? Drücke ich den Notrufknopf, schreie ich? Dabei kommt es auch darauf an, den Raum der Notsituation zu verstehen und Räume notfalls umzubauen. Ganz oft haben Menschen in einer Situation nicht eingegriffen – weil es keinen Fluchtweg gab. Sie müssen heute wissen, wo der Fluchtweg ist, denn die Gewalt ist härter geworden.

Was steckt dahinter?

Es gibt Leute, die gehen mit Waffen in Gesundheitseinrichtungen. Thematisiert wird das dann, wenn sie einen Migrationshintergrund haben oder Geflüchtete sind. Wir diskutieren die Messergewalt bei Geflüchteten, der ›Normalfall‹ kommt da kaum mehr vor. Dabei wissen wir von jungen Menschen hierzulande, die das Tragen eines Messers selbstverständlich finden – das hat mit Flucht und Asyl nichts zu tun. Viele Täter haben ein völlig verzerrtes stereotypes Bild von Pflege. Die Meinung, was Pflege und Gesundheitsversorgung ausmachen, ist geprägt von Interessensdurchsetzung und wird nicht mehr als Partnerschaft verstanden – im Sinne von ›medizinische Versorgung, Pflege und Sorge funktionieren besser, wenn es eine gute Arzt-Patienten-Beziehung gibt‹. Auch die sozialen Medien tragen viel zum verzerrten Verhältnis zwischen den Einrichtungen und den Menschen, die sie in Anspruch nehmen, bei. Alles wird diskutiert, bewertet, Einzelfälle werden hochstilisiert. Bekommt man ständig suggeriert, das Gesundheitssystem sei kaputt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen denken, dann hole ich mir mein persönliches Recht daraus. Das ist eine Schieflage. Die Politik wäre gut beraten, Einrichtungen mehr als soziale Orte zu verstehen. Orte, in denen etwas passiert, wo es Kontakt, Kommunikation, Interaktion gibt. Gute Einrichtungen stellen sich darauf ein. Unsere Gesellschaft wird weiter auseinanderdriften – während früher der Pfarrer durch alle Zimmer ging, an Hausordnung, Regeln und Normen appellierte, können wir uns heute nicht mehr so einfach auf traditionelle Werte wie Toleranz, Frieden, Vielfalt oder Gerechtigkeit verständigen. Daran könnten wir arbeiten.

Hier geht es zum Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld.

Vor wenigen Jahren haben wir Prof. Dr. Zick im forum zu der Frage interviewt, warum Männer und Frauen gewalttätig werden. Nachzulesen im Archiv.

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