Eskalation im Pflegealltag: Beschimpfen, Treten, Anspucken, Schlagen – nicht nur Beschäftigte in Gesundheitsberufen, auch Patienten und Pflegebedürftige machen in ihrem Alltag Erfahrungen mit aggressivem Verhalten und gewalttätigen Übergriffen.
Eine überforderte Tochter schreit ihre zu Hause gepflegte Mutter an, als die sich nicht kämmen lassen will. In der Notaufnahme eines Krankenhauses gehen Angehörige eines Patienten auf einen Pfleger los, weil ihnen die Wartezeit zu lang ist. In einem Altenpflegeheim fasst ein Bewohner beim Umsetzen in den Rollstuhl der Pflegefachkraft an die Brust. Weil sie ihn nicht länger krankschreiben will, beschimpft und bedroht ein Patient eine Ärztin. So unterschiedlich diese Vorfälle auf den ersten Blick erscheinen: Bei allen handelt es sich um Gewalt, wie sie in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern, in Arztpraxen, im Rettungsdienst und in der häuslichen Pflege immer wieder vorkommt.
Ältere Pflegebedürftige besonders gefährdet
Wie häufig es in der professionellen Pflege zu Gewalt kommt, ist schwer zu beziffern. Forscher wie der Pflegewissenschaftler Professor Stefan Schmidt von der Hochschule Neubrandenburg gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Aufgrund von Angst oder Scham kommen viele Fälle wahrscheinlich nie zur Anzeige. Im Rahmen des Forschungsprojekts PEKo (Partizipative Entwicklung eines Konzeptes zur Gewaltprävention) wurden vor einigen Jahren Pflegefachpersonen aus vier Bundesländern befragt, die in der stationären Langzeitpflege, in Krankenhäusern und in der ambulanten Pflege tätig waren. Das Ergebnis: Rund 70 % der Befragten gaben an, sie hätten in den letzten zwölf Monaten mindestens eine Form von Gewalt gegenüber Pflegebedürftigen ausgeübt. Auch in der häuslichen Pflege kommt es zu Aggressionen und Gewalt.
Wie häufig es in der professionellen Pflege zu Gewalt kommt, ist schwer zu beziffern.
Das Spektrum der körperlichen und seelischen Gewalt reicht dabei von Beschimpfungen, Ignorieren, Anschweigen oder Anschreien über Vernachlässigung, das Vorenthalten von Zuwendung, Nahrung oder Hilfsmitteln bis hin zu freiheitsentziehenden Maßnahmen, Schlägen und anderen Misshandlungen. Auch sexualisierte Gewalt kommt im Pflegealltag vor.
Laut dem Zentrum für Qualität in der Pflege sind ältere Pflegebedürftige besonders verletzlich und daher auch besonders gewaltgefährdet. Zu den Faktoren, die Gewalt in der Pflege fördern, zählen Stefan Schmidt zufolge Überlastung und Stress. Ein erhöhtes Risiko besteht daher auch für Menschen mit Demenz oder anderen psychischen Erkrankungen, die mit einem herausfordernden oder aggressiven Verhalten einhergehen.
Gewalt gegen Pflegende
Auch die Pflegenden sind vor Gewalterfahrungen nicht gefeit. Neun von zehn der im Rahmen des Forschungsprojekts PEKo befragten Pflegefachkräfte gaben zu Protokoll, dass sie in den letzten zwölf Monaten vor der Befragung psychische oder körperliche Gewalt erlebt hatten. Die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) und das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf befragten 2017 knapp 2.000 Beschäftige aus der stationären und ambulanten Pflege, aus Krankenhäusern und der Behindertenhilfe. 94 % von ihnen hatten verbale, 70 % körperliche Gewalt durch die von ihnen Gepflegten erlebt. Rund ein Drittel fühlte sich dadurch stark belastet. Am häufigsten waren Beschimpfungen, gefolgt von Kneifen und Kratzen, Schlagen und Bedrohen.
Gewaltprävention in der Pflege
Damit es gar nicht erst zu Übergriffen kommt, gibt es verschiedene Initiativen zur Gewaltprävention in der Pflege. Die Beratungs- und Beschwerdestelle ›Pflege in Not‹ etwa bietet bereits seit 1999 berlinweit Hilfe und Unterstützung bei Konflikten und Gewalterfahrungen in der Pflege älterer Menschen. Das Angebot richtet sich an Menschen, die zu Hause oder stationär gepflegt werden, an pflegende Angehörige und Pflegefachkräfte, kurz: an alle, die im Zusammenhang mit der Pflege Gewalt befürchten, beobachtet oder erfahren haben. Ebenfalls in Berlin wurde 2021 das ›Netzwerk Gewaltfreie Pflege‹ gegründet, in dem sich auch der Medizinische Dienst Berlin-Brandenburg gemeinsam mit vielen anderen Akteurinnen, Akteuren und Institutionen aus den Bereichen Gesundheit und Pflege, Strafverfolgung und Betreuung engagiert.
In Bayern entwickelten Wissenschaftler im Pilotprojekt ›Pflege in Bayern – gesund und gewaltfrei‹ zusammen mit vierzig teilnehmenden Einrichtungen einen Methodenkoffer mit Konzepten und Ansätzen zur Gesundheitsförderung und Gewaltprävention in der stationären Altenpflege. Im November 2024 startete das Nachfolgeprojekt ›Gesund und gewaltfrei – Präventionsstrategie Bayern‹ mit dem Ziel, Beschäftigte in der stationären Altenpflege vor Überforderung, Gewalthandlungen und Gewalterfahrungen am Arbeitsplatz zu schützen und gleichzeitig Bewohnerinnen und Bewohnern in Pflegeheimen Gewalterfahrungen zu ersparen. Die Pflegekammer Nordrhein-Westfalen hat angekündigt, ein Meldesystem für Berufspflichtverletzungen in der Pflege aufzubauen, über das Fälle von Gewalt künftig einfach und anonym gemeldet werden können.
Aggression in der Notaufnahme
Nicht nur die Pflege, auch andere Gesundheitsberufe sehen sich zunehmend mit Gewalterfahrungen konfrontiert. »Wir erleben in vielen Bereichen unseres täglichen Lebens eine gesellschaftliche Verrohung, die leider auch Ärztinnen und Ärzte, das Praxispersonal, Pflegekräfte und viele weitere Gesundheitsberufe in ihrer täglichen Arbeit zu spüren bekommen «, erklärte Dr. Klaus Reinhardt, der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), im Oktober 2024. Auch die Gutachterinnen und Gutachter der Medizinischen Dienste geraten bei ihren Hausbesuchen mitunter in bedrohliche Situationen.
Vor allem im Krankenhausbereich, so scheint es, dreht sich die Gewaltspirale immer schneller. Eine im April 2024 veröffentlichte repräsentative Umfrage im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) ergab, dass in 73 % der Kliniken in Deutschland die Zahl der Übergriffe in den vergangenen fünf Jahren zugenommen hat. Besonders häufig eskaliert die Situation offenbar in den Notaufnahmen, wo gestresste Patienten auf überlastetes Personal stoßen. Einer Untersuchung des in Hamburg ansässigen Zentralinstituts für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin zufolge hatten 97 % der befragten Beschäftigten in Notaufnahmen in den zurückliegenden zwölf Monaten verbale, 87 % körperliche Gewalt durch Patientinnen und Patienten erlebt. Fast jede zweite weibliche Pflegekraft in der Notaufnahme war sexualisierter Gewalt ausgesetzt.
Besserer Schutz für Gesundheitsberufe
Als Reaktion auf die zunehmende Gewalt bemühen sich immer mehr Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen darum, ihre Beschäftigten so gut wie möglich zu schützen, und entwickeln Gewaltschutzkonzepte. Die Maßnahmen sind vielfältig und reichen von systematischen Gefährdungsbeurteilungen über Gewaltpräventions- und Deeskalationstrainings für Mitarbeitende und eine Aufstockung des Sicherheitspersonals bis zur Installation zusätzlicher Sicherheitsvorkehrungen wie Notrufknöpfen, Fluchtwegen und Sicherheitsschleusen. Weitere Maßnahmen sind Hausverbote für Personen, die ausfällig werden, und mobile Alarmgeräte für Beschäftigte in gefährdeten Bereichen. Plakate mit Slogans wie »Bei Gewalt hört für mich der Spaß auf« oder »Halt zu Gewalt« mahnen Patienten und Angehörige in Fahrstühlen und Wartebereichen zur Zurückhaltung. Auch die psychologische Unterstützung für Gewaltbetroffene wird vielerorts ausgebaut.
Die Gesundheitsberufe sehen ausdrücklich die Gesellschaft und die Politik in der Pflicht. Bundesärztekammer und Ärzteverbände fordern eine Verschärfung des Strafrechts, um Übergriffe künftig härter zu bestrafen. In Nordrhein-Westfalen hat das Gesundheitsministerium im Februar 2025 eine Initiative gegen Rassismus, Gewalt und Diskriminierung gegenüber den Mitarbeitenden im Gesundheitswesen gestartet. In einem ersten Schritt sollen nun in einer Online-Befragung Betroffene zu Wort kommen. Denn, so betonte NRW-Gesundheitsminister Karl-Laumann zum Auftakt, es sei »wichtig, dass wir den Menschen zuhören, die solche Erfahrungen gemacht haben «.