Oft im Verborgenen: Gewalt in Pflegebeziehungen

Von Dr. Ulrike Gebhardt Lesezeit 4 Minuten
Schattenbild von einer Person, die einer im Rollstuhl sitzenden Person den Rücken zuwendet

Obwohl oft mit Tabus behaftet, hat das Bewusstsein für das Thema ›Gewalt in der Pflege‹ zugenommen. Präventionskonzepte sollten aber in allen Einrichtungen verankert sein.

Schon als Berufsanfängerin in der Pflege machte Ulli Maria Jefcoat eine belastende Erfahrung mit dem Thema Gewalt: Sie wollte einer psychisch kranken Bewohnerin der Einrichtung, in der sie tätig war, über eine belebte Straße helfen. Doch die Bewohnerin wehrte sich gegen den festen Griff und biss Jefcoat in den Arm. Diese ist ihren Kolleginnen heute noch dankbar, dass sie sich nicht nur um die Verletzung kümmerten, sondern sie auch psychisch unterstützten: »Es war so wichtig für mich, über das Erlebte sprechen zu können«, sagt Jefcoat, die sich heute in einem Alten- und Pflegeheim in Frankfurt als Leiterin für das Gewaltpräventionsprojekt PEKo engagiert. Wie vielschichtig das Problem ›Gewalt in der Pflege‹ in der Praxis ist, beschreiben der Pflegewissenschaftler Jürgen Osterbrink und die Juristin Franziska Andratsch unter anderem am Beispiel einer Altenpflegerin, die eine Bewohnerin im Pflegeheim auffordert, in ihr Zimmer zu gehen, weil es Zeit für das Abendessen ist. Als sich die alte Dame vehement weigert, packt die Pflegerin sie an der Hand und versucht, sie brüsk in ihr Zimmer zu schleifen.

Hohe Dunkelziffer

»Gewalt in der Pflege kommt häufig vor; sowohl pflegebedürftige als auch pflegende Menschen sind davon betroffen«, sagt Dr. Ralf Suhr, Vorstandsvorsitzender des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP). Es handele sich um ein schwerwiegendes Problem mit erheblichem negativen Einfluss auf die Lebensqualität sowie die Gesundheit der Betroffenen.

Dabei seien Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung der besonders vulnerablen Gruppe älterer pflegebedürftiger Menschen ein äußerst tabubehaftetes Phänomen, »bei dem viele Ereignisse und Schicksale wahrscheinlich nie bekannt werden, also in einem erheblichen Dunkelfeld liegen«, erklärt Suhr.

Vor diesem Hintergrund müssen auch die Studien zur ›Häufigkeit von Gewalt in der Pflege‹ gesehen werden. In einer Befragung von rund 1.000 Leitungspersonen in der stationären Pflege in Deutschland, die vor drei Jahren durchgeführt wurde, gaben zum Beispiel knapp 70 % der Befragten an, in den letzten zwölf Monaten mindestens einen Fall von Gewalt in ihrer Einrichtung mitbekommen zu haben. Zumeist seien das Auseinandersetzungen der Bewohnerinnen und Bewohner untereinander gewesen (63 %), aber es habe auch Gewalt durch Beschäftigte oder Angehörige gegeben (jeweils 19 %).

Im Rahmen des Präventionsprojektes PEKo (Partizipative Entwicklung eines Konzeptes zur Gewaltprävention) wurden vor zwei Jahren Pflegefachpersonen in unterschiedlichen Pflegezusammenhängen befragt: im Krankenhaus, in der ambulanten Pflege und in der stationären Langzeitpflege. Dabei gaben 92 % der Befragten an, in den vergangenen zwölf Monaten im Berufsalltag mindestens eine Form von psychischer oder körperlicher Gewalt erlebt zu haben. 70 % bekannten, gegenüber Pflegebedürftigen selbst Gewalt ausgeübt zu haben, zum Beispiel Vernachlässigung oder psychische Gewalt.

In einer Studie aus 2021 hatte etwa die Hälfte der befragten Pflegefachpersonen durch Patienten oder Bewohnerinnen sexuelle Gewalt erfahren, etwa in Form von anzüglichen Bemerkungen, sexuellen Gesten oder unangenehmen Berührungen in sexueller Absicht.

Verschiedene Formen von Gewalt

Es gibt verschiedene Formen von Gewalt in der Pflege, die höchst unterschiedlich empfunden und längst nicht von allen Menschen als ›Gewalt‹ erkannt und zugeordnet werden. Eine einheitliche allgemeingültige Definition von »Gewalt in der Pflege« gibt es nicht. Und »nicht immer ist Gewalt böswillig«, meint das ZPQ. Zudem geschieht Gewalt nicht immer bewusst, etwa beim ungefragten Duzen oder bei der Kleinkindansprache. Andere Situationen sind eindeutiger, beispielsweise zum Essen zwingen aber auch Beschimpfungen, Beleidigungen, Einschüchterungen, Diskriminierung, Verweigerung von Hilfe, Schläge, freiheitsentziehende Maßnahmen, finanzielle Ausbeutung, sexuelle Handlungen. Generell unterscheidet man aktive von passiver Gewaltanwendung. Zu Letzterem gehören zum Beispiel auch eine unzureichende Pflege oder den Pflegebedürftigen ohne Aufsicht allein zu lassen.

Es gibt verschiedene Formen von Gewalt in der Pflege, die höchst unterschiedlich empfunden und längst nicht von allen Menschen als ›Gewalt‹ erkannt und zugeordnet werden.

Unabhängig davon, wer die Gewalt ausübt – für diejenigen, die sie erfahren, können Gewalterfahrungen erhebliche Folgen haben. Abgesehen von unmittelbaren körperlichen Schäden kann es zu psychischen Symptomen wie Stress, Unruhe, Angst, Verzweiflung, Depressionen, Schlafproblemen und Aggressionen kommen.

Schutzkonzepte sollen Gewalt verhindern

Sascha Köpke, Professor für Pflegewissenschaft an der Universität Köln, der das Präventionsprojekt PEKo leitet, ist der Ansicht, dass eine gewaltfreie Pflege illusorisch sei: »Wir sind sehr nah an Menschen dran. Wir haben extreme Situationen, mit denen wir konfrontiert sind. Das heißt, Gewalt wird es wahrscheinlich immer geben.«

In den Einrichtungen sind umfassende Gewaltschutzkonzepte noch nicht sehr häufig verankert.

Doch wie kann man Gewalt verhindern? Es gelte, deutlich mehr Menschen, Betroffene, Pflegefachpersonen und Organisationen für das Thema zu sensibilisieren. Zwar hat das Bewusstsein für das Thema in der Praxis zugenommen. Doch in den Einrichtungen sind umfassende Gewaltschutzkonzepte noch nicht sehr häufig verankert. In den Bundesländern bestünden zum Teil erhebliche Regelungs- und Anforderungsunterschiede in Bezug auf strukturelle Gewaltschutzmaßnahmen, sagt Ralf Suhr: »Im Sozialgesetzbuch XI fehlt zudem bisher ein unmissverständlicher Auftrag zur Gewaltprävention in der Langzeitpflege. « Das eine Erfolg versprechende Standardkonzept gebe es nicht, so das ZQP. Wichtig bei der Entwicklung von Schutzprogrammen sei es, alle Beteiligten vor Ort, also die Mitarbeitenden, aber auch die zu betreuenden Personen und deren Angehörige, miteinzubeziehen.

Für die Entwicklung solcher Programme ist es erforderlich, die Ursachen für die Gewalt zu verstehen. Emotionale und körperliche Erschöpfung auf der Seite der Pflegenden, zum Beispiel wegen des massiven Personalmangels, trägt dazu genauso bei wie Hilflosigkeit, Scham oder Verzweiflung auf der Seite der Pflegebedürftigen. Aber auch aggressives Verhalten anderer, Missverständnisse, Unsicherheit, Angst, Schmerzen und die eigenen Befindlichkeiten können Gewalt begünstigen. Pflege sei eine asymmetrische Beziehung, das bestehende Gefälle berge die Gefahr eines Machtmissbrauchs, meinen Osterbrink und Andratsch.

Aber auch aggressives Verhalten anderer, Missverständnisse, Unsicherheit, Angst, Schmerzen und die eigenen Befindlichkeiten können Gewalt begünstigen.

Gewaltprävention in der Praxis

»Einrichtungen, in denen Gewaltprävention tatsächlich in der Organisationskultur verankert ist, sind nicht nur bessere Orte für pflegebedürftige Menschen, sie sind auch bessere Arbeitsorte«, sagt Ralf Suhr vom ZQP.

Fortbildungen zum Thema sollen die Kompetenzen des Pflegepersonals stärken, etwa in kritischen Situationen zu deeskalieren oder die verschiedenen Formen von Gewalt zu erkennen. Wichtig in den stationären Einrichtungen und bei ambulanten Pflegediensten sind auch geschulte Führungspersonen, die offen mit dem Thema umgehen und bei Vorfällen eine systematische Aufarbeitung anleiten und ermöglichen.

Schutzkonzepte umfassen vier Hauptfelder: Nach einer Risikoanalyse müssen Präventionsmaßnahmen festgelegt werden, die helfen, Gewalt zu vermeiden, bei Gewalt einzuschreiten und Vorfälle aufzuarbeiten. Diese Pläne gilt es dann über Interventionen und Aufarbeitungsprozesse und den Einsatz einer/eines Präventionsbeauftragten in die Praxis umzusetzen.

Wie das ganz alltäglich aussehen kann, schildert Ulli Maria Jefcoat am Beispiel eines jungen Pflegers, der den Stecker für die Klingel einer Bewohnerin herausgezogen hatte, weil diese alle fünf Minuten offenbar grundlos geklingelt hatte. »Richtig wäre es gewesen, wenn der junge Mann seine Kollegin gerufen und um Entlastung in dieser schwierigen Situation gebeten hätte«, sagt Jefcoat. Ein Gespräch mit einer Führungskraft der Einrichtung führte dem jungen Pfleger schließlich vor Augen, »dass er in einer schwierigen Situation nicht allein auf sich gestellt ist, sondern Unterstützung bekommt, wenn er sich mit seinem Team austauscht«.

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