Ob Rollstühle, Messgeräte oder Prothesen: Der Hilfsmittelmarkt ist komplex und wächst. Die Gutachterinnen und Gutachter des Medizinischen Dienstes prüfen, ob beantragte Hilfsmittel im Einzelfall geeignet sind, um den Behandlungserfolg sicherzustellen oder eine Behinderung auszugleichen. Prof. Patrick Schunda, Leiter der Sozialmedizinischen Expertengruppe (SEG) ›Hilfsmittel und Medizinprodukte‹, gibt einen Einblick.
Herr Prof. Schunda, wie viele Begutachtungen führen die Medizinischen Dienste im Bereich Hilfsmittel durch?
Die Gutachterinnen und Gutachter haben im vergangenen Jahr bundesweit 238000 Hilfsmittelgutachten erstellt. Die Krankenkassen beauftragen vor allem dann den Medizinischen Dienst, wenn es um komplexe Versorgungsfragen geht. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn ein Rollstuhl beantragt wird. Die Gutachter prüfen dann, ob genau dieser Rollstuhl geeignet ist, damit der Versicherte im nahen Umfeld möglichst selbstständig mobil sein kann.
Die meisten Versicherten erhalten Hilfsmittel ohne Begutachtung: Im vergangenen Jahr gab es knapp 30 Millionen Hilfsmittelversorgungen – weniger als 1% wurden von den Krankenkassen zur Begutachtung beauftragt. In knapp 43% der begutachteten Fälle stellten die Gutachterinnen und Gutachter fest, dass die sozialmedizinischen Voraussetzungen für das beantragte Hilfsmittel erfüllt waren; in 29% waren sie es nicht und in knapp 19% der Fälle nur zum Teil. Bei den restlichen Fällen ging es um komplexe Fälle, die eine andere, in der Regel umfangreiche Antwort benötigten.
Welche Produktgruppen werden begutachtet?
Jede dritte Begutachtung betraf Kranken- und Behindertenfahrzeuge, Elektrostimulationsgeräte und Schuhe. Bei den Schuhen geht es häufig um die Versorgung des diabetischen Fußsyndroms. Diese Patienten brauchen oft Spezialschuhe, um die Füße vor Verletzungen und Wunden zu bewahren. Der Medizinische Dienst wird auch beauftragt, wenn Versicherte hochtechnische Körpermessgeräte wie zum Beispiel Gewebezuckermessgeräte beantragt haben, die mit Insulinpumpen gekoppelt sind. Weitere Themen sind Versorgungen mit Orthesen, Schienen, Inhalationsgeräte, therapeutische Bewegungsgeräte und vieles andere mehr.
Auf welcher Grundlage werden Hilfsmittel begutachtet?
Grundlage für die bundesweit einheitliche und qualitative hochwertige Begutachtung von Hilfsmittelversorgungen ist der Begutachtungsleitfaden ›Hilfsmittel‹. Dieser basiert auf den Regeln des Sozialgesetzbuches sowie auf den Regelungen der Hilfsmittelrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Bei der sozialmedizinischen Begutachtung ist zudem die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu berücksichtigen – ebenso die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention. Derzeit erarbeiten wir eine Begutachtungsanleitung (BGA) zur Hilfsmittelbegutachtung. An dieser werden dann auch alle stellungnahmeberechtigten Institutionen wie zum Beispiel die Patientenverbände und die Leistungserbringerverbände beteiligt. Das Ziel ist, einen breiten gesellschaftlichen Konsens für die BGA Hilfsmittel zu erreichen.
Wıe funktionieren Begutachtungen?
Im Kern fragen die Gutachterinnen und Gutachter, ob eine beantragte Versorgung medizinisch notwendig ist und ob diese geeignet ist, den Behandlungserfolg zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen. Dazu gehört auch die Überlegung, ob der Versicherte mit dem Hilfsmittel möglichst selbstständig und selbstbestimmt leben kann.
Die Zahl der Hilfsmittelbegutachtungen ist rückläufig, warum?
Vor vier Jahren waren es noch 276.000 Begutachtungen im Hilfsmittelbereich – also knapp 38.000 mehr Einzelfallbegutachtungen als in 2023. Warum die Krankenkassen weniger Gutachten in Auftrag geben als früher, wissen wir nicht. Wahrscheinlich können die Krankenkassen aufgrund der Digitalisierung im Vorfeld besser entscheiden, welche Fälle begutachtet werden sollten und welche eher nicht. Die verbleibenden Fälle zeichnen sich aber durch eine immer größere Komplexität aus.
Welche Qualifikation haben die Gutachterinnen und Gutachter?
Die Hilfsmittelbegutachtungen werden überwiegend von Fachärztinnen und Fachärzten durchgeführt. Unterstützt werden sie von Orthopädie-Mechanikerinnen und -Mechanikern. Die Gutachtenden werden intensiv auf ihre Aufgaben vorbereitet und fortlaufend geschult. Das ist in der Gemeinschaft des Medizinischen Dienstes sichergestellt.
Welche Rolle spielt die SEG Hilfsmittel und Medizinprodukte?
In der SEG sind aus jedem Medizinischen Dienst Hilfsmittelexpertinnen und -experten vertreten. Unsere zentrale Aufgabe ist es, eine qualitativ hochwertige und einheitliche Begutachtung sicherzustellen. Dafür erarbeiten wir Begutachtungsleitfäden und -anleitungen und verfassen Papiere, die den Gutachterinnen und Gutachtern Orientierung geben. Der Hilfsmittelmarkt ist sehr dynamisch und komplex − der Austausch stellt sicher, dass alle auf einem guten Wissensstand sind. Der Wissenstransfer und der Informationsfluss zu den Einzelfallgutachterinnen und -gutachtern sind immens wichtig.
Was passiert in der Systemberatung?
Die SEG berät den GKV-Spitzenverband bei der Erarbeitung und Weiterentwicklung der Hilfsmittel-Richtlinie des G-BA. Dabei geht es darum, gesetzliche Rahmenbedingungen zu konkretisieren. Im Moment beschäftigen wir uns damit, wie die Versorgung von Menschen mit komplexen Behinderungen verbessert werden kann. Das Ziel ist, dass die Betroffenen so schnell wie möglich die Versorgung erhalten, die sie brauchen.
Was passiert, wenn ein Hilfsmittel nicht empfohlen werden kann?
Wenn ein Gutachter zum Beispiel im persönlichen Hausbesuch feststellt, dass die Prothese oder der Rollstuhl, der verordnet worden ist, nicht für den Versicherten geeignet ist, dann gibt er im Gutachten konkrete Hinweise zu notwendigen Änderungen oder zu Alternativen, die besser geeignet sind. Diese Beratung ist Teil des Gutachtens, das bei der Einzelfallbegutachtung erstellt wird. Die Versicherten können das Gutachten bei der Krankenkasse oder dem Medizinischen Dienst anfordern und erhalten so hilfreiche Informationen für ihre Versorgung.
Durch die Digitalisierung werden Hilfsmittel zunehmend komplexer.
Auf dem Hilfsmittelmarkt gibt es immer schneller und immer mehr Innovationen. Vieles ist nicht transparent. Das betrifft insbesondere die CE-Kennzeichnung, mit der die technische Funktionsfähigkeit durch Benannte Stellen bescheinigt wird. Kritisch zu hinterfragen ist auch, auf welchem Weg manche Hilfsmittel in die Versorgung gelangen, ohne einen belegbaren Nutzen gezeigt zu haben. Und sicherlich ist auch das Thema Cybersicherheit von Bedeutung, da ja viele Hilfsmittel inzwischen digital sind oder mit bestimmten Programmen zur Überwachung von Körperwerten und -funktionen verknüpft sind. Ich sehe aber auch viele Chancen. Innovationen können dazu beitragen, die Versorgung der Patientinnen und Patienten zu verbessern. Nehmen wir nochmals das Beispiel Diabetes: Durch die Kombination von Geräten, die kontinuierlich den Blutzucker messen und einer Insulinpumpe den Impuls geben, bei Bedarf die richtige Menge Insulin automatisch abzugeben, wird ein entscheidender Schritt zu einer künstlichen Bauchspeicheldrüse geleistet. Oder denken Sie an Hörgeräte. Die Hörgeräte, die noch vor einigen Jahren auf dem Markt waren, sind vom Klang und von der Unterdrückung von Störgeräuschen nicht mit den Geräten der heutigen Generation vergleichbar. Solche Innovationen haben für die Betroffenen viele Vorteile im alltäglichen Leben.
Welche Herausforderungen sehen Sie für die Zukunft?
Die große Herausforderung in der Begutachtung ist, dass die Gutachterinnen und Gutachter nicht mehr nur die Frage zu beantworten haben, ob eine Versorgung medizinisch notwendig ist oder nicht. Es geht darum, aus vielen Versorgungoptionen diejenige zu empfehlen, die für den Betroffenen geeignet ist.