Prävention von Pflegebedürftigkeit

Von Prof. Dr. Adelheid Kuhlmey, PD Dr. Andrea Budnick Lesezeit 4 Minuten
Ein älterer Mann springt mit einem "Seilchen".

Um die Nachfrage nach medizinischer und pflegerischer Versorgung im Gesundheitssystem künftig besser zu steuern und gesundes Altern nachhaltig zu gestalten, muss die Prävention von Pflegebedürftigkeit stärker in den Blickpunkt rücken.

Die absolute Anzahl der Jahre ohne Pflegebedürftigkeit bei selbstständiger Lebensführung ist bis heute stetig gestiegen, jedoch in geringerem Maß als die Lebenserwartung. Das führte dazu, dass heute eine Expansion im Anteil der Jahre mit Pflegebedürftigkeit bewältigt werden muss. In den kommenden 25 Jahren wird sich zudem das Altern der Babyboomer-Generation auswirken. Sie sind zurzeit mehrheitlich zwischen 60 und 70 Jahre alt und werden 2055 zwischen 90 und 100 Jahre alt sein. Die stärkste Nachfrage an medizinischer und pflegerischer Versorgung wird diese Generation zwischen 2035 und 2045 hervorrufen. Infolge der gleichzeitig rückläufigen Fachkräfteressource wird die Nachfrage mit heutigen Ansätzen nicht zu bewältigen sein. Prävention von Pflegebedürftigkeit und der Erhalt von Selbstständigkeit bis in die höchsten Lebensalter hinein sind relevante strukturelle Ansätze, um die Nachfrage im Gesundheitssystem zu steuern und Pflege nachhaltig zu gestalten.

Einsamkeit wird immer mehr zu einem Gesundheitsrisiko in unseren modernen Gesellschaften.

Bei Prävention von Pflegebedürftigkeit geht es nicht um die Vorstellung, es könnte gelingen, auch in den höchsten Lebensjahren jede Einbuße körperlicher, sozialer und geistiger Leistungsfähigkeit aufzuhalten oder gar zu vermeiden. Es geht vielmehr darum, jeweils noch vorhandene physische, psychische und soziale Ressourcen in einer besonders vulnerablen Zielgruppe zu identifizieren und mit Blick auf den Erhalt von Selbstständigkeit und Selbstbestimmung, Wohlbefinden und Lebensqualität zu stärken und weiteren Ressourcenverlust zu verhindern. Zu den Zielsetzungen einer alterssensiblen Prävention gehören die Vorbeugung genereller Risiken, die Verzögerung von Funktionseinbußen und Vermeidung individueller Gefahren, die Eindämmung unvermeidlicher Belastungen, eine Verbesserung von Chancen und Möglichkeiten sozialer Teilhabe, Verarbeitung dauerhafter Beeinträchtigung und Verstetigung verbliebener Ressourcen.

Wie sich körperliches und kognitives Training auswirken

Es gibt viele belastbare wissenschaftliche Befunde zur Wirksamkeit präventiver Maßnahmen in der Pflege. Diese zeigen unter anderem einen positiven Einfluss von körperlichem Training auf Gebrechlichkeit als ein wichtiges Maß für den Erhalt der Selbstständigkeit im hohen Alter. In einer Studie des Altersforschers Vasiljev Ožic aus dem Jahr 2020 zeigten sich nach einem Jahr deutliche Anstiege der Gebrechlichkeit in der Kontrollgruppe und kein Anstieg der körperlichen Gebrechlichkeit in den Interventionsgruppen. Zudem war ein positiver Effekt auf die Fähigkeit zum selbstständigen Wohnen bei Älteren erkennbar. Körperliche Aktivität zeigt aber auch präventive Wirkungen auf die Kognition. So zeigte ein Wissenschaftsteam um die Finnin Inna Lisko 2021 literaturbasiert auf, dass das Risiko für Demenz und eine Alzheimer-Erkrankung bei aktiven Personen geringer war als bei körperlich inaktiven. Nicht nur körperliches, auch kognitives Training hat Auswirkungen auf die geistige Leistungsfähigkeit und den längeren Erhalt kognitiver Ressourcen bei schon pathologischen Einbußen der geistigen Leistungen. Es zeigt sich zudem, dass sich kognitives Training sowohl bei Personen mit, aber auch ohne kognitive Einschränkungen positiv auf die geistige Leistungsfähigkeit auswirkt. Wissenschaftlich bestätigen konnten 2022 auch Fuu-Jen Tsai und Sheng-Wai Shen die Zusammenhänge: Interventionen waren in der Lage, die kognitiven Fähigkeiten älterer Menschen zu verbessern, den Abbau kognitiver Kompetenzen zu verlangsamen und den Beginn von Demenz zu verzögern.

Sozial eingebunden statt einsam

Einsamkeit wird immer mehr zu einem Gesundheitsrisiko in unseren modernen Gesellschaften, und die Ermöglichung von Teilhabe wird zu einem wichtigen präventiven Ansatz in der Pflege für den Erhalt von Gesundheit und eines selbstständig geführten Lebens in den hohen Lebensjahren. Einsame Menschen bewegen sich weniger, ernähren sich schlechter, trinken mehr Alkohol und rauchen häufiger im Vergleich zu nicht einsamen Personen. Das führt nicht selten zu gestörtem Schlaf, biologischen Dysregulationen sowie einer negativen sozialen Wahrnehmung. Das Hamburger Forscherteam von Ulrike Dapp kontrollierte die Wirkungen einer Intervention zum Thema ›Aktive Gesundheitsförderung im Alter‹ – einem Programm, das in Kleingruppen über Bewegung, Ernährung, soziale Teilhabe und gesundes Altern informierte und soziale Kompetenz förderte. Im Ergebnis überlebten Teilnehmende des Programms während des Beobachtungszeitraums 2000 bis 2020 signifikant länger und auch länger ohne Pflegebedürftigkeit als Personen, die nicht am Programm teilgenommen hatten. Ein sozial eingebundenes Leben entscheidet folglich mit darüber, ob Menschen im hohen Alter gesund bleiben und gesundheitliche Beeinträchtigungen bewältigen können.

Prevention Nursing im Test

Ein vom Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin, dem BKK-Dachverband und dem Medizinischen Dienst Bund initiiertes und vom G-BA gefördertes Projekt ›PrävPfleg‹ soll die Selbstständigkeit von Menschen mit beginnenden kognitiven Einschränkungen erhalten und eine Pflegebedürftigkeit hinauszögern. Dazu wird eine von den Autorinnen gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen entwickelte neue Versorgungsform, das sogenannte Prevention Nursing, beitragen.

Im Projekt werden Menschen ab dem 65.Lebensjahr unter anderem in ihrer Mobilität, kognitiven Leistungsfähigkeit oder sozialen Teilhabe gefördert. Technische Assistenzsysteme begleiten das Prevention Nursing.

Um wissenschaftlich belegen zu können, ob die neue Versorgungsform zu einem längeren Erhalt der Selbstständigkeit im Alltag führt, wird das Prevention Nursing über 15 Monate implementiert und getestet. Dabei wird auf vorhandene Präventions-Tools (Interventionskoffer) zurückgegriffen:

  • Förderung der Mobilität durch Vereinbarung eines individuellen Entwicklungsziels, kombiniert mit individuellen Übungen zur Bewegungsförderung,
  • Förderung der kognitiven Leistungsfähigkeit erfolgt über die NeuroNation MED-App, die personalisiert und multimodal einsetzbar ist,
  • Förderung der sozialen Teilhabe durch bedürfnisorientierte Angebote, bei Interesse und Bedarf mit digitaler Teilhabe kombinierbar,
  • Erfassung und Optimierung der medizinischen Versorgungssituation: das Modul zum Abbau von Versorgungsdefiziten wird vom Hausärzteverband unterstützt,
  • Optimierung der Ernährungs- und Wohnraumsituation: Teilnehmende mit starkem Übergewicht oder einem Risiko für Mangelernährung werden unter Einbezug von Angehörigen zum Ernährungs- und Trinkverhalten beraten. Zudem können Möglichkeiten einer Wohnraumanpassung geprüft werden.
  • Edukation der Angehörigen wird ebenfalls gefördert, da auch Angehörige bei Bedarf aktiv in die Intervention einbezogen werden können.

Vor Beginn des Prevention Nursing wird in einem Assessment die Situation der Studienteilnehmenden ermittelt. Basierend auf den Ergebnissen beginnt die Arbeit der auf Prävention und Gesundheitsförderung geschulten Fachkräfte, der Prevention Nurses.

An dem Projekt werden 384 gesetzlich Krankenversicherte teilnehmen, die bei ihrer Kranken- und Pflegekasse einen Pflegegrad beantragt hatten, jedoch keine Einstufung erhielten. Miteinbezogen werden Personen mit einer leichten kognitiven Störung nach ICD-11, da sie mit größerer Wahrscheinlichkeit eine Demenz entwickeln können und Demenzen auch in frühen Stadien eine Pflegebedürftigkeit begründen. Wer jünger als 65 Jahre ist, bereits einen Pflegegrad hat oder privat versichert ist, kann nicht am Projekt teilnehmen. Die unabhängige Evaluation wird vom Institut für Klinische Pflegewissenschaft und vom Institut für Biometrie und Klinische Epidemiologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin durchgeführt. Ergebnisse werden bis 2028 erwartet.

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