Was geschieht, wenn jemand bei der Krankenkasse ein Hilfsmittel beantragt hat und diese den Medizinischen Dienst mit einer Begutachtung beauftragt? Wir begleiten eine Gutachterin in Sachsen-Anhalt und erfahren, warum es wichtig ist, genau hinzusehen.
Nach fast einer Stunde Fahrt von der sachsen-anhaltischen Landeshauptstadt Magdeburg aus erreicht Frau Dr.Haag im Landschaftsschutzgebiet nördlich von Uchtspringe auf einer Kiefernwaldlichtung das Diakoniewerk Wilhelmshof e.V. Die Hilfsmittelexpertin des Medizinischen Dienstes Sachsen-Anhalt besucht an diesem Tag Jan Wenzel, für den bei der Krankenkasse ein Therapiestuhl beantragt wurde. Darin, so die Hoffnung, sitzt der 52-Jährige trotz einer Hemiparese, die seine rechte Körperhälfte weitgehend lähmt, bei der strukturierenden und aktivierenden Tagesförderung besser.
Offene Fragen vor Ort klären
Die Krankenkasse hat den Medizinischen Dienst mit einer Begutachtung beauftragt, um zu entscheiden, ob ein Therapiestuhl ein notwendiges und vor allem geeignetes Hilfsmittel für Herrn Wenzel ist. Das ist nicht die Regel, in vielen Fällen entscheidet die Krankenkasse allein über die Bewilligung eines Hilfsmittels. Wird der Medizinische Dienst hinzugezogen, schaut sich die Gutachterin oder der Gutachter die von der Kasse bereitgestellten oder vorab angeforderten Informationen, darunter Diagnosen und ärztliche Befunde, an und recherchiert im Hilfsmittelverzeichnis des GKV-Spitzenverbandes und anhand aktueller Rechtsprechung, ob das Hilfsmittel notwendig, zweckmäßig und wirtschaftlich ist. So hat sich auch die Gutachterin des Medizinischen Dienstes Sachsen-Anhalt intensiv in den Fall von Jan Wenzel eingearbeitet und festgestellt, dass der beantragte Therapiestuhl, ein Bürostuhl-ähnliches Modell, nicht im Hilfsmittelverzeichnis gelistet ist. »Die Krankenkasse würde also die Kosten nicht regelhaft übernehmen«, erklärt Haag. »Die im Hilfsmittelverzeichnis eingetragenen Therapiestühle sind alle Sitzhilfen für Kinder- und Jugendliche. Jetzt ist die Frage, wie Herr Wenzel auf geeignete Weise versorgt werden kann. Dazu muss ich aber mehr über die genaue Zielstellung, die Mobilität von Herrn Wenzel und die Problematik seiner Sitzhaltung erfahren.« Darum hat sich der Medizinische Dienst für eine persönliche Begutachtung vor Ort angemeldet.
Mit erfahrenem Blick
Jan Wenzel sitzt im Gemeinschaftsraum seiner betreuten Wohngruppe neben seiner Mutter. Sein Oberkörper neigt nach rechts, der Kopf nach vorn. Mit seinen Händen knetet er ein dünnes Stofftuch. Seit 24 Jahren lebt er auf dem Wilhelmshof. Als die Gutachterin ihn begrüßen möchte, hilft seine Mutter ihm beim Aufstehen. Obwohl ihr Sohn nicht bei ihr lebt, ist sofort erkennbar, wie eng die Beziehung der beiden ist. So oft sie kann, ist sie bei ihrem Sohn, und sie begleitet die Begutachtung nicht nur, weil sie es als rechtliche Betreuerin tun muss.
Während Frau Dr.Haag mit Familie Wenzel, der Bereichsleiterin der Eingliederungshilfe und dem Wohngruppenbetreuer zum Arbeitsraum geht, beobachtet die erfahrene Gutachterin bereits das Gangbild und die Körperhaltung des 52-Jährigen, der sich in seinen orthopädischen Schuhen am Handlauf im Flur voranzieht. Parallel dazu tauscht sie sich mit dem betreuenden Personal zu seinen Kommunikationsfähigkeiten aus. Denn nachdem eine Hirnhautentzündung im frühen Kindesalter sein Gehirn geschädigt hat, kann sich Jan Wenzel fast nur durch Laute mitteilen. Im Arbeitsraum angekommen, setzt sich Herr Wenzel in seinen Leichtgewichtrollstuhl. Dr.Haag registriert die elektrische Schiebehilfe, die als Zusatzantrieb angebracht ist. »Ich sehe, dass der Rollstuhl etwas zu groß ist und der Oberkörper keinen guten Halt hat«, sagt sie und schaut sich die Rückenlehne genauer an. »Die Gurte, die hier drin sind, lassen sich zwar noch ein wenig anpassen, aber das wird vermutlich nicht ausreichen. Der Fuß steht auch nicht ganz gerade, hier wäre eine Beinführung sinnvoll.«
Herr Wenzel könne im Rollstuhl einer Mitbewohnerin, den er hin und wieder nutzt, angeblich deutlich besser sitzen. »Könnte ich den sehen?«, fragt sie nach. Bereichsleiterin Karen Helmstaedt reagiert überrascht und freut sich: »Wir sind ja froh, dass jemand richtig guckt.« Schnell holt sie den Rollstuhl der Bewohnerin. Als sich Jan Wenzel hinsetzt, fällt der Unterschied sofort auf. »Der Muldenrücken stabilisiert ihn mehr«, sagt Dr.Haag.
Jede Info zählt
Alle Eindrücke und Informationen, die die Ärztin gewinnt, fließen am Ende ebenso in ihr Gutachten mit ein wie die Ergebnisse der körperlichen Untersuchung, etwa zum Herz-Lungen-Befund, zur Wirbelsäule, zur Greifkraft oder Beweglichkeit. Neben dem körperlichen Befund berücksichtigt das Gutachten natürlich auch die individuelle Krankengeschichte. Denn wenn es darum geht, geeignete Hilfsmittel auszuwählen oder zu empfehlen, spielen auch Vor- und Nebenerkrankungen eine Rolle. Jan Wenzel leidet zum Beispiel an einer Epilepsie, die sich auf den Umgang mit dem Hilfsmittel auswirken könnte. »Wann war denn der letzte Anfall?«, fragt sie nach. Der Wohngruppenbetreuer erwidert, dass dieser schon lange zurückliege, da Jan Wenzel medikamentös gut eingestellt sei. Dr.Haag lässt sich die Medikamentenliste zeigen und notiert sich die Medikation. Als zufällig die Ergotherapeutin des Wilhelmshofs den Raum betritt, bespricht die Gutachterin direkt noch, welche Übungen die Therapeutin mit Herrn Wenzel wie oft macht und welche anderen Heilmittel er bekommt. So entsteht nach und nach ein umfassendes Bild. »Passt denn der Rollstuhl von Herrn Wenzel unter den Tisch hier im Arbeitsraum?«, erkundigt sich Dr.Haag. »Und sind die Tische im Sozialraum genauso hoch?« Helmstaedt und der Wohngruppenbetreuer nicken zustimmend.
»Die Tatsache, dass der Therapiestuhl nicht im Hilfsmittelverzeichnis gelistet ist, schließt diesen nicht grundsätzlich aus, weil er ein Medizinprodukt mit ausgewiesener medizinischer Zweckbestimmung und Indikation ist. Diese sind am Ende ebenso entscheidend wie der Punkt, dass ein Hilfsmittel allgemein umfassend im Alltag eingesetzt werden kann, um Grundbedürfnisse zu sichern. Der Bedarf von Herrn Wenzel beschränkt sich allerdings nicht nur auf die Zeit in der Tagesförderung. Seinen vorhandenen Rollstuhl entsprechend anzupassen, würde ihm im Alltag wesentlich mehr zusätzliche Vorteile bringen, ohne dass ein neuer Therapiestuhl angeschafft werden müsste. Das ist dann am Ende auch wirtschaftlich«, erklärt Dr.Haag. »Ich würde also empfehlen, seinen Rollstuhl mit einer besseren Rückenlehne und Beinstützen vom Sanitätshaus ausstatten zu lassen. Dadurch wäre eine gute Sitzposition genauso beim Essen, bei anderen alltäglichen Beschäftigungen und draußen im nahen Wohnumfeld gesichert. Ein neuer Therapiestuhl hingegen steht meist nur an einem Platz, weil er weder Schiebegriffe noch Antriebsräder hat und so nur mühsam von Raum zu Raum bewegt werden kann.«
Feinschliff im Nachgang
Nach ihrem Besuch in Wilhelmshof schreibt Dr.Haag das Gutachten. Um Details zu klären, wird im Zuge dessen das Sanitätshaus angerufen. Dabei stellt sich heraus, dass der Rollstuhl von Herrn Wenzel nicht nachgerüstet werden kann.
Im Ergebnis empfiehlt Dr.Haag in ihrem Gutachten schließlich keinen zusätzlichen neuen Therapiestuhl, sondern einen neuen Leichtgewichtrollstuhl mit einem stabilisierenden Rückenkissen und entsprechenden Beinstützen, um die Sitzhaltung insgesamt zu verbessern.
Dass ihre Empfehlung den Alltag von Jan Wenzel grundsätzlich verbessern könnte, hat Frau Dr.Haag bereits zum Ende ihres Besuchs gesehen: Als sie sich nach etwa 45 Minuten noch sein Zimmer und das angrenzende barrierefreie Badezimmer zeigen lässt, erkennt die Ärztin bereits am Gang von Jan Wenzel, dass seine Kraft spürbar nachlässt. »Genau dafür braucht er dann einen Rollstuhl, in dem er gut sitzen und weiter am Geschehen teilnehmen kann.«