Der Anspruch auf einen gleichberechtigten Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle Menschen besteht schon lange. Bis zu seiner vollständigen Umsetzung ist es noch ein weiter Weg.
Der Backenzahn pocht? Ab zur Zahnärztin! Bei Rückenschmerzen hilft der Physiotherapeut. Und die regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen sollte man im Interesse der eigenen Gesundheit auch nicht versäumen. Doch all das ist für Menschen mit körperlichen, kognitiven, psychischen oder sprachlichen Einschränkungen oft leichter gesagt als getan.
Die Frauenärztin Hannelore Sonnleitner-Doll bietet in Frankfurt in Zusammenarbeit mit pro familia gynäkologische Sprechstunden für Frauen im Rollstuhl an. Ein Lifter hilft beim Transfer vom Rollstuhl auf die höhenverstellbare Behandlungsliege. Immer wieder hat sie Patientinnen jenseits der vierzig, die in ihrem ganzen Leben noch nie beim Frauenarzt waren. Der Grund: Es mangelt an entsprechenden Angeboten. Laut einer Studie im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums gab es 2019 bundesweit nur rund ein Dutzend Einrichtungen, die gynäkologische Sprechstunden für Frauen mit Behinderungen abhielten.
Theorie und Praxis
Grundsätzlich haben alle Menschen den gleichen Anspruch auf freien Zugang zur Gesundheitsversorgung. Vor gut dreißig Jahren, 1994, wurde Artikel 3 des Grundgesetzes um den folgenden Satz ergänzt: »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.« Seit 2002 gibt es das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), seit 2016 das Bundesteilhabegesetz. Beide sollen eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen beseitigen und die Inklusion fördern. Im März 2009 trat in Deutschland die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) in Kraft. Menschen mit Behinderung haben danach das Recht auf eine medizinische Versorgung, die der Qualität und dem Standard der Versorgung von Menschen ohne Behinderung entspricht. Und zum Ende der vergangenen Legislaturperiode hat das Bundesgesundheitsministerium im Dezember 2024 einen Aktionsplan für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen vorgelegt.
Barrierefreiheit reicht nicht
»Inklusion im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention bedeutet, dass alle Menschen von Anfang an in allen gesellschaftlichen Bereichen selbstbestimmt und gleichberechtigt miteinander leben und allen unabhängig davon, ob sie behindert oder nicht behindert sind, Teilhabe möglich ist«, heißt es im 2015 vorgelegten Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention des Bundesfamilienministeriums. Nach dieser Definition bedeutet Inklusion »mehr als die Gewährleistung von umfassender Barrierefreiheit «.
Doch schon um diese ist es hierzulande nicht gut bestellt, monierte Jürgen Dusel, der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, im Februar 2024. Das führe dazu, »dass Menschen mit Behinderungen noch immer ihren Arzt oder ihre Ärztin nicht frei wählen können, weil die allermeisten Praxen nicht barrierefrei sind.« Tatsächlich hatte im Jahr 2023 erst knapp die Hälfte aller Arztpraxen in Deutschland mindestens eine Maßnahme für mehr Barrierefreiheit umgesetzt. Die meisten (43,9 %) verfügten über Angebote für Menschen mit eingeschränkter Mobilität, wie einen stufenfreien Zugang oder verstellbare Liegen. Jede fünfte Praxis war auf Menschen mit Hörbehinderung eingestellt, nicht einmal jede zehnte (8,2 %) auf Sehbehinderte. Nur 1,5 % der Arztpraxen hatten ein Angebot für Menschen mit kognitiven Einschränkungen.
Betroffen sind viele
Handlungsbedarf besteht laut Dusel noch in vielen Bereichen der Gesundheitsversorgung: Wichtig sei nicht nur der Abbau von Kommunikationsbarrieren, sondern auch eine noch bessere Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln. Rehabilitationseinrichtungen sowie Angebote der Prävention inklusive einer angemessenen Krebsvorsorge müssten ebenfalls besser auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen ausgerichtet werden.
Und das sind nicht wenige: Zum Jahresende 2023 lebten in Deutschland rund 7,9 Millionen Menschen mit schwerer Behinderung; das waren 9,3 % der Gesamtbevölkerung. Als schwerbehindert gelten Personen, denen die Versorgungsämter einen Grad der Behinderung von mindestens 50 zuerkannt haben. Nur etwa 3 % der schweren Behinderungen waren angeboren oder im ersten Lebensjahr aufgetreten; knapp 91 % wurden durch eine Krankheit verursacht. Körperliche Behinderungen hatten 58 % der schwerbehinderten Menschen, geistige oder seelische insgesamt 15 %. Hinzu kommen Menschen mit Beeinträchtigungen, aber ohne anerkannte Behinderung, sowie Menschen mit chronischen Erkrankungen. Laut dem im April 2021 vorgelegten dritten Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen waren im Jahr 2017 insgesamt 13,04 Millionen Menschen in Deutschland »im Zusammenhang mit Schädigungen ihrer Körperstrukturen und -funktionen in ihrer Leistungsfähigkeit dauerhaft beeinträchtigt «.
Die beste Gesundheitsversorgung hilft nicht, wenn nicht alle Zugang dazu haben.
Vor allem Menschen mit einer kognitiven oder schweren Mehrfachbehinderung sind häufiger krank: Nahezu jeder hat mindestens eine weitere körperliche Erkrankung, etwa jeder Dritte leidet an einer psychischen Krankheit. Auch darum ist ein möglichst unkomplizierter Zugang zur Gesundheitsversorgung wichtig: Früherkennung und frühzeitige Behandlung tragen dazu bei, Verschlechterungen, Folgeerkrankungen und Chronifizierung vorzubeugen.
Von einem inklusiven Gesundheitswesen profitieren viele: Ein stufenloser Zugang zur Arztpraxis nützt auch Eltern mit Kinderwagen oder Menschen, die zeitweise auf Krücken angewiesen sind. Infotexte in Leichter Sprache oder farbige Leitsysteme kommen auch Menschen mit eingeschränkten Sprach- oder Lesekenntnissen zugute. Und je inklusiver das Gesundheitssystem ist, desto höher sind die Chancen, dass sich auch Menschen mit Beeinträchtigungen für einen Gesundheitsberuf entscheiden.
Auf dem Weg zu mehr Inklusion
Die Rechte und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen sind in den vergangenen Jahrzehnten stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Die Anfänge der Fachgesellschaft Deutsche Gesellschaft für Medizin für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung (DGMGB) etwa reichen zurück in das Jahr 2003. Die Universität Bielefeld hat 2022 die deutschlandweit erste Professur für ›Medizin für Menschen mit Behinderung, Schwerpunkt, psychische Gesundheit‹ eingerichtet. Die Bundesärztekammer hat zusammen mit medizinischen Fachgesellschaften ein Fortbildungs-Curriculum Medizin für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung oder mehrfacher Behinderung vorgelegt.
Der Medizinische Dienst bietet mit der Möglichkeit von Informationen in Leichter Sprache z. B. zur Pflegebegutachtung niedrigschwellige Zugänge an. Das Portal arzt-auskunft.de der Stiftung Gesundheit erleichtert mit vielfältigen Filtermöglichkeiten die Suche nach barrierearmen Praxen. 2015 wurden die rechtlichen Voraussetzungen für die Errichtung von medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) geschaffen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft für medizinische Behandlungszentren für Erwachsene mit Behinderung hat inzwischen mehr als siebzig Mitglieder. In Nordrhein-Westfalen entstand im Rahmen des Projekts Kompetenzzentren Selbstbestimmt Leben in NRW (KSL.NRW) das Praxishandbuch ›Vielfalt pflegen als Lehrwerk zum Thema Behinderung für Pflegeschulen‹; ein Praxishandbuch ›Inklusive Gesundheit‹ ist derzeit in Arbeit.
Wie es mit dem im Dezember 2024 vorgelegten Aktionsplan für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen weitergeht, bleibt abzuwarten. Der Koalitionsvertrag der amtierenden Bundesregierung umfasst zwar ein eigenes Unterkapitel zum Thema Inklusion. Doch die darin skizzierten Maßnahmen stehen unter Finanzierungsvorbehalt. Nach Einschätzung des Behindertenbeauftragten Jürgen Dusel zahlt sich der Einsatz für Inklusion aus. In einem Interview formulierte er es einmal so: »Die beste Gesundheitsversorgung hilft nicht, wenn nicht alle Zugang dazu haben.«
