Deutschland nach der Wahl – die Herausforderungen im Gesundheitswesen sind gewaltig. Eine alternde Gesellschaft, Fachkräftemangel, steigende Kosten durch Digitalisierung und medizinischen Fortschritt. Wie kann eine gerechte und solidarisch finanzierte Versorgung unter diesen Bedingungen in Zukunft gelingen? Fragen an Prof. Dr. med. Ferdinand M. Gerlach, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt am Main und langjähriger Vorsitzender des Sachverständigenrats Gesundheit und Pflege.
Ihre Kollegen fordern eine Zeitenwende im Gesundheitssystem. Überall herrsche eine beispiellose Unsicherheit, heißt es. Was ist da los?
Diese Unsicherheit hat sich über Jahre aufgestaut. Wir haben seit langer, langer Zeit Strukturprobleme im System, die nicht gelöst wurden. Stattdessen wurden Verteilungskonflikte von der Politik zumeist nur mit mehr Geld zugekleistert.
Jetzt sind die Kassen leer.
Ja. Das geht nun nicht mehr. Die Reserven sind verbraucht, die Krankenkassen haben kein Geld mehr, um die wachsende Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben zu schließen. Hinzu kommt: Wir haben ein ineffizientes Gesundheitssystem, mit Über-, Unter- und Fehlversorgung nebeneinander. Die Kosten sind hoch, die Versorgungsqualität ist durchschnittlich. Es ist klar, dass es so nicht weitergehen kann. Das führt zu großer Verunsicherung.
Was tun?
Den allermeisten ist bewusst, dass eingreifende Maßnahmen notwendig sind. Aber es fehlt eine klare Strategie.
Eins der wenigen Gesetze, die in letzter Minute noch verabschiedet wurden, ist die Krankenhausreform. Gehört sie zu den eingreifenden Maßnahmen, die Sie fordern?
Die Klinikreform ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Aber es fehlt die Schnittstelle zum ambulanten Bereich. Wir müssen konsequent Versorgungsleistungen aus dem stationären Bereich in den ambulanten verlagern. Da haben wir in Deutschland einen riesigen Nachholbedarf im Vergleich zu anderen Ländern.
Es gibt noch Streit über die Finanzierung der Reform.
Zu Recht. Die Finanzierung ist verunglückt. Die Vorgabe, dass Milliarden-Investitionen von den Beitragszahlern geschultert werden, ist weder vernünftig noch zulässig. Da diese Reform sehr viel Geld kostet und man die Auswirkungen der sinnvollen Zentralisierung und Zusammenlegung von Kliniken erst in vielen Jahren spüren wird, halte ich eine andere Reform für sehr viel wichtiger: die umfassende Reform der Notfallversorgung.
Der Gesetzentwurf liegt vor. Warum sollte er schnell verabschiedet werden?
Es ist traurig. Bereits zum zweiten Mal scheiterte das Vorhaben – jetzt in letzter Minute. Aber es sollte das erste Projekt der neuen Regierung sein, weil die fehlende, bedarfsgerechte Steuerung in der Notfallversorgung eines unserer zentralen Probleme ist. Wichtigste Bausteine sind die Steuerung mit digital gestützter Ersteinschätzung und die Einrichtung Integrierter Notfallzentren. Diese Reform würde viel schneller wirken und sehr viel weniger kosten.
Aber es geht um Geld, das nicht in der Kasse ist.
Deshalb ist zunächst ein Vorschaltgesetz zur finanziellen Stabilisierung der Pflege- und Krankenversicherung erforderlich. Man kann nicht warten, bis die Strukturreformen wirken, und wird wahrscheinlich auf altbekannte Kostendämpfungsmaßnahmen, zum Beispiel Zwangsrabatte, zurückgreifen.
Auch im ambulanten Bereich knirscht es gewaltig: überfüllte Praxen, lange Wartezeiten, Abweisung von Neupatienten. Was läuft schief?
Es fehlt hierzulande eine flächendeckende hausarztzentrierte Versorgung [HZV]. In anderen Ländern ist es üblich, dass sich alle Bürger und Bürgerinnen eine Hausarztpraxis ihrer Wahl suchen, die dann die Koordinierung ihrer Versorgung übernimmt. Sogar Fachärzte sind mittlerweile für eine hausarztzentrierte Versorgung, weil das unkoordinierte Verstopfen von Praxen untragbar ist.
Wıe sähe das Modell konkret aus?
Bundesweit, vor allem in BadenWürttemberg, Bayern, Hessen und Niedersachsen, wird die HZV angeboten; zehn Millionen Versicherte nehmen bereits teil. Ideal sind positive Anreize zur Teilnahme. Sinnvoll wäre etwa die Zusage, dass man bei qualifizierter Überweisung durch den Hausarzt schneller einen Termin beim richtigen Facharzt bekommt und vor zu viel und falscher Medizin geschützt wird. Oder: Wer weiterhin unkoordiniert direkt hochspezialisierte Fachärzte oder sogar mehrere ansteuern will, zahlt einen Teil der entstehenden Mehrkosten.
Schafft man damit nicht die freie Arztwahl ab?
Nein. Sie haben weiterhin die Wahl zwischen allen Hausarztpraxen, und wenn Sie eine qualifizierte Überweisung Ihres Hausarztes haben, können Sie zwischen allen Fachspezialisten wählen. Den Augenarzt oder die Gynäkologin können Sie sogar direkt, ohne Überweisung aufsuchen. Das Einzige, was bei der HZV nicht mehr möglich ist, ist die unkoordinierte Inanspruchnahme der nächsten Versorgungsebene.
Was halten Sie von einer stärkeren Selbstbeteiligung?
Selbstbeteiligungen könnten eine intelligente Steuerung unterstützen. Im Vergleich mit vielen europäischen Nachbarn ist Deutschland ein Land mit sehr geringer Selbstbeteiligung. Sie darf selbstverständlich nicht dazu führen, dass sich Einzelne den Arztbesuch nicht mehr leisten können. Aber im Moment gehen Deutsche viel zu oft zum Arzt und liegen außerdem viel zu häufig im Krankenhaus. Wir haben ein chaotisches, ungesteuertes System, das dazu führt, dass sich in Praxen und Kliniken Hamsterräder drehen. Das ist schlecht für die Patienten und für alle Beschäftigten.
Unser System war mal vorbildlich. Jetzt scheint es chaotisch. Wie konnte es dazu kommen?
Es ist einerseits eine Frage der Mentalität in Deutschland. Hinzu kommt das Quartalsabrechnungssystem in den Praxen. Auch das Fallpauschalen-System der Krankenhäuser wurde in Deutschland überreizt. Verkürzt: Wenn nicht operiert oder implantiert wird, verdienen Kliniken nichts.
Vıele dieser Probleme sind seit Jahren bekannt. Warum hat sich trotzdem nichts verändert?
Wir haben 16 Landesgesundheitsminister, die alle selbst entscheiden wollen, einen Bundesgesundheitsminister, 17 KVen, einen Gemeinsamen Bundesausschuss und eine überschießende Regelungsdichte durch diverse dicke Sozialgesetzbücher. Wenn Sie den Entscheidern, die derzeit vom System profitieren, eine Neuerung vorschlagen, überlegen alle zuerst, ob und wie es sie betrifft. Und bevor eine Verschlechterung auch nur riskiert wird, wird lieber abgelehnt. Das System ist so verkrustet, dass grundlegende Reformen enorme Widerstände überwinden müssen.
Sie erwähnten bislang nicht den Ärztemangel, der laut Bundesärztekammer die Versorgung in naher Zukunft gefährdet. Was sagen Sie zu dieser Warnung?
Wir haben Engpässe und eklatante Fehlverteilungen nach Disziplinen und Regionen, aber keinen allgemeinen Ärztemangel. Im internationalen Vergleich gibt es bei uns sehr viele Ärztinnen und Ärzte. Von 2000 bis 2023 stieg die Zahl der berufstätigen Ärzte zum Beispiel um 45% auf rund 429000. Hätten wir den Durchschnittswert anderer Länder, wären viele Ärzte bei uns arbeitslos. Auch die Zahl der in- und ausländischen Medizinstudierenden ist mit rund 22000 pro Semester völlig ausreichend.
Aber Sie stimmen zu, dass in der Altenpflege ein bedrohlicher Fachkräftemangel herrscht?
Bei der Langzeitpflege im Altenpflegebereich gibt es tatsächlich Mängel. Da muss dringend investiert werden. Es muss Anreize für Ausbildung, für mehr Teamarbeit und sogar für den stärkeren Einsatz von Robotik geben.
Abschließend: Ist unser solidarisch finanziertes Gesundheitssystem zukunftsfest?
Es hat eine Zukunft. Aber es muss weiterentwickelt werden. Laut IGES Institut könnten die Sozialbeiträge in den nächsten zehn Jahren auf fast 50% steigen. Über die ursprünglich angestrebte Grenze von 40% redet heute keiner mehr. Zukünftige Kosten für extrem hochpreisige Medikamente und neue Therapien sind da noch nicht berücksichtigt.
Sind Sie Optimist?
Ich bin vorsichtig optimistischer Realist. Es gibt im deutschen Gesundheitssystem keine Revolutionen, sondern nur Evolution. Der Druck, der jetzt durch die finanziellen Engpässe entsteht, ist offenbar notwendig, um in Deutschland grundlegende Reformen durchzusetzen. Große Reformen sind Kinder der Not. Das fühlt sich bestimmt nicht gut an, ist für notwendige Erneuerungen aber gut. Klinikreform, Digitalgesetze und Notfallreform sind Schritte in die richtige Richtung. Die Zeiten, in denen man Probleme mit Geld zukleistern und Gruppen ruhigstellen konnte, sind vorbei. Jede Krise ist auch eine Chance.