Viele Kinder und Jugendliche versorgen ihre kranken Eltern. Bislang stellen ›Young Carers‹ eine in Deutschland kaum wahrgenommene Gruppe von Pflegenden dar. Dabei gehört für viele Kinder und Jugendliche die Versorgung pflegebedürftiger Familienmitglieder zu ihren täglichen Aufgaben.
Für Julika Stich begann es, als sie sieben Jahre alt war, erzählt sie in der Reihe ›Close up‹ des Projekts ›Pausentaste‹: »Die Übernahme der Pflegeverantwortung meiner Mutter kann ich rückblickend als schleichenden Prozess bezeichnen. Das bedeutet, dass ich im Alter von sieben Jahren kleine Tätigkeiten übernommen habe, die aber schon viel Verantwortung mit sich gebracht haben.« So half Julika zum Beispiel ihrer Mutter, wenn diese vom Rollstuhl in der Wohnung zum Rollstuhl draußen wechselte, damit diese nicht auf den harten Steinboden fiel. Mit zunehmendem Alter und dem Fortschreiten der Krankheit der Mutter wuchsen auch ihre Aufgaben: »Die größte Herausforderung begann, als ich zehn Jahre alt war. Da habe ich die Körper und Intimpflege meiner Mutter übernommen. Ich würde sagen, dass dies auch heute noch sehr prägend für mich ist. Wenn man sich vorstellt, dass man mit vielen Situationen konfrontiert wird, die auch erwachsene pflegende Angehörige an ihre Grenzen bringen, kann man erahnen, wie herausfordernd und belastend das für Kinder ist.« Heute setzt sich Julika Stich dafür ein, dass das Thema ›Young Carers‹ stärker in der Öffentlichkeit beachtet wird – denn obwohl recht viele Kinder und Jugendliche einen Familienangehörigen versorgen, ist nur wenig darüber bekannt.
Dass Kinder und Jugendliche ihre Angehörigen pflegen, bleibt oft verborgen. Doch es kommt überall vor, in der gesamten Gesellschaft
Es gibt keine genauen Zahlen über Young Carers. Das bedauert auch Prof. Dr. Sabine Metzing, Professorin für Pflegewissenschaft mit dem Schwerpunkt Kinder und Jugendliche an der Universität Witten Herdecke. Sabine Metzing forscht zwar zu pflegenden Kindern und Jugendlichen – aber auch sie kennt keine exakten Zahlen. Etwa 5% der 12- bis 17-Jährigen in Deutschland unterstützen ein krankes Familienmitglied, ergab eine Umfrage, doch eine andere Umfrage in NRW lässt vermuten: Es sind noch mehr. Bei dieser Umfrage füllten Schüler und Schülerinnen ab der fünften Klasse einen elektronischen Fragebogen aus. Das Ergebnis: 7% helfen im Haushalt mit oder auch bei der Gabe von Medikamenten und 6,1% der Befragten gaben an, pflegende Tätigkeiten auszuüben: Sie helfen beim Anziehen, bei der Körperpflege, bei der Ernährung und Ähnlichem. »Dass Kinder und Jugendliche ihre Angehörigen pflegen, bleibt oft verborgen. Doch es kommt überall vor, in der gesamten Gesellschaft«, betont Metzing und warnt davor, die Eltern von ›Young Carers‹, wie pflegende Kinder und Jugendliche häufig genannt werden, zu verurteilen, weil sie es zulassen, dass ihre Kinder sie pflegen, obwohl das für die jungen Menschen belastend ist.
Viele Young Carers verheimlichen ihre Situation
Für Kinder ist es meistens selbstverständlich, dass sie zum Beispiel ihrem Vater oder ihrer Tante helfen, und die Gepflegten selber wissen oft keinen anderen Weg, als sich von ihnen helfen zu lassen. Viele Kinder und Jugendliche verheimlichen, dass sie Angehörige pflegen. Aus Angst davor, dass das Jugendamt oder andere offizielle Stellen von der Situation erfahren und dann die Familie auseinanderreißen, um das Kind zu schützen. Aber auch aus dem Gefühl der Scham heraus. Scham über die Blasenschwäche der Mutter, Angst vor Ausgrenzung, weil der Vater im Rollstuhl sitzt, oder auch der Wille, die Angehörigen vor abfälligen Bemerkungen schützen zu wollen – all diese Befürchtungen führen dazu, dass Kinder und Jugendliche häufig sogar ihren Freunden nicht erzählen, dass sie zu Hause einen Erwachsenen pflegen.
In den Nächten bin ich oft an meine Grenzen gestoßen, da ich am nächsten Morgen wieder in die Schule musste und unausgeschlafen war.
Diese Ängste sind nicht unberechtigt, sagt Sabine Metzing: »Fast alle Young Carers, mit denen ich gesprochen habe, haben Ausgrenzung erfahren, wenn Gleichaltrige von ihrer Pflegetätigkeit bzw. der Krankheit der Eltern erfahren haben.« Dazu kommt oft noch eine körperliche Belastung, berichtet die Pflegewissenschaftlerin: »Internationale Studien zeigen: Pflegende Kinder und Jugendliche leiden unter verschiedenen körperlichen und seelischen Belastungen: Eine Tochter hat Rückenschmerzen, weil sie ihre Mutter jeden Tag die Treppe hoch und runterträgt. Ein Sohn schläft schlecht, weil er sich Sorgen um seinen Vater macht.« Manche haben auch einfach weniger Zeit, um sich mit Freunden zu treffen. So kommt es, dass Young Carers sich oft allein fühlen und sich immer weiter zurückziehen. Ähnliches berichtet auch Julika Stich: »Das Gefühl, ständig in Rufbereitschaft zu sein, war eine große Herausforderung für mich. Denn wenn ich als Kind mit anderen gespielt habe oder in der Schule war, wusste ich nie, wie es meiner Mutter geht. In den Nächten bin ich oft an meine Grenzen gestoßen, da ich am nächsten Morgen wieder in die Schule musste und unausgeschlafen war. Rückblickend fühlt es sich so an, als hätte ich selbst ein Kind gehabt.« Diese Umkehrung des Eltern-Kind-Verhältnisses beschreiben Experten mit dem Begriff ›Parentifizierung‹. So geht es vielen Young Carers, weiß Sabine Metzing, und beschreibt die Probleme, die sich daraus ergeben: »Oft haben Young Carers geringere Bildungschancen: Sie können sich in der Schule schlechter konzentrieren, weil sie müde sind oder sich Sorgen machen. Einige verpassen Unterricht, weil sie einen Angehörigen pflegen, oder haben weniger Zeit zum Lernen.«
Wıe kann man helfen?
Eigentlich bräuchten Young Carers Unterstützung durch Erwachsene bei ihren pflegenden Tätigkeiten, oder auch psychologische Unterstützung in dieser besonderen Situation. Doch das passiert viel zu selten, sagt Sabine Metzing: »Wenn Young Carers verheimlichen, dass sie regelmäßig zum Beispiel ihre Eltern pflegen, können sie auch nicht um Hilfe bitten oder Unterstützung einfordern.«
Deswegen gibt es eine Reihe von Angeboten für Young Carers, die deren Anonymität wahren. Verschiedene Unterstützungsangebote finden sich zum Beispiel auf der Website ›Pausentaste‹ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Hier werden Anlaufadressen genannt, wo Betroffene Hilfe bekommen können, es gibt Gesprächsangebote und Tipps, wie Young Carers dem bedrückenden Gefühl der Einsamkeit begegnen können. Auch das Projekt ›Young Helping Hands‹ von Julika Stich findet sich hier. Sie betont, dass Freunde, Verwandte und andere Menschen, die einen Young Carer kennen, ebenfalls helfen können: »Personen, die Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit erkrankten Angehörigen kennen, rate ich immer wieder hinzuschauen und bei Bedarf mit den jungen Menschen zu sprechen. Denn was Young Carers vor allem brauchen, sind Verständnis und ein offenes Ohr. Beim Zuhören hilft es, auf eine Bewertung zu verzichten, sich Zeit zu nehmen und einfach da zu sein.« Einen weiteren wichtigen Aspekt nennt Sabine Metzing:
Wichtig ist ein Raum für Young Carers, wo sie sich austauschen können. Um zu sehen: Ich bin nicht alleine, anderen jungen Menschen geht es ähnlich.
Solche Selbsthilfegruppen könnten digital eingerichtet werden, damit es für Teilnehmende möglich ist, anonym zu bleiben. Davon könnten auch Young Carers profitieren, die in einer Kleinstadt oder auf dem Land leben, wo es keine Selbsthilfegruppe gibt.
Erste Ansätze für solche Projekte gibt es, doch sie müssten deutlich ausgebaut werden. Überhaupt müsste das Thema Young Carer bekannter werden in der Gesellschaft: bei denen, die pflegenden Kindern und Jugendlichen helfen könnten, und bei denen, die selber Young Carer sind. Denn oft ist ihnen gar nicht bewusst, wie außergewöhnlich sie körperlich und seelisch überlastet sind durch ihre Rolle. Julika Stich hat deswegen ein Buch geschrieben: Tom passt auf Papa auf ist ein Vorlesebuch für Kinder ab vier Jahren. Es handelt von dem achtjährigen Tom, der seinem Vater oft hilft, denn der kann nicht laufen. Kindgerecht beschreibt Julika Stich, wie es Tom mit dieser Situation geht, welche Gefühle er durchlebt. Es sei hier nicht verraten, wie das Buch endet, aber so viel ist klar: Kinder und Jugendliche, die einen Angehörigen pflegen, benötigen selber Hilfe. Ein offenes Ohr ist dabei der erste Schritt.