Wer pflegt in Zukunft die Eltern?

Von Gabi Stief Lesezeit 4 Minuten
Jüngere muskulöse Frau stemmt Rollator in die Höhe.

Pflege ist überwiegend Familiensache: 4,9 von 5,7 Mio. pflegebedürftigen Menschen werden zu Hause versorgt, zumeist von weiblichen Angehörigen. In gerade einmal 20% der Fälle ist ein ambulanter Pflegedienst beteiligt. Studien bezweifeln, dass die Angehörigenpflege mittelfristig noch in diesem Umfang leistbar ist.

Jahr für Jahr steigt die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland, deutlich stärker als die Prognosen in einer zunehmend älter werdenden Gesellschaft erwarten ließen. Vor allem die häusliche Pflege nimmt an Bedeutung zu. Binnen zehn Jahren hat sich die Zahl der Pflegebedürftigen, die zu Hause versorgt werden, von rund 1,9 Mio. auf rund 4,9 Mio. (Ende 2023) erhöht. Ein wesentlicher Grund ist der Wunsch, trotz gesundheitlicher Einschränkungen ein Leben in der gewohnten Umgebung fortzuführen. In einer Online-Umfrage der Hochschule Osnabrück im Auftrag des Sozialverbands VdK konnten sich nur 10% der Menschen vorstellen, einmal in einem Pflegeheim zu leben.

Ebenso wenig überraschend: Der Anteil von Frauen unter pflegenden Angehörigen ist noch sehr hoch und liegt laut VdK-Studie bei 72%. Fast die Hälfte kümmert sich um Vater oder Mutter, in jedem fünften Haushalt versorgt ein Lebens- oder Ehepartner den anderen, oft mit Unterstützung weiterer Familienmitglieder. Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) geht von etwa 7,1 Mio. pflegenden Angehörigen aus.

Künftig mehr Pflege auf Distanz

Ob dies auch in naher Zukunft so sein wird, ist ungewiss. Das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) rechnet mit einem Rückgang des Pflegepotenzials im familiären Umfeld. Konkrete Zahlen gibt es zwar nicht; aber die Ursachen, die diese Entwicklung befördern, sind bekannt. Dazu zählt die hohe Erwerbsquote von Frauen, die gesunkene Geburtenrate in der Babyboomer-Generation, die jetzt ins Rentenalter kommt und in einigen Jahren voraussichtlich auf Pflege angewiesen ist, die Zunahme an Ein-Personen-Haushalten im Alter sowie die räumliche und berufliche Mobilität in der Gesellschaft, die deutlich gestiegen ist. Die Folge ist, dass die erwachsenen Kinder immer seltener in der Nachbarschaft oder am gleichen Ort wie die pflegebedürftigen Eltern leben. Die Zahl pflegender Angehöriger, die aus der Distanz heraus Eltern oder Verwandte unterstützen, werde deutlich steigen, schätzt das ZQP in einer Studie über die sogenannten Distance Caregiver. Ein Problem sei, dass bislang zu wenig über die spezielle Herausforderung der Pflege auf Distanz bekannt sei.

Jede zweite Pflegende muss im regulären Job kürzertreten.

Fest steht, dass der Bedarf an zusätzlicher Unterstützung für die Pflege in der Familie zunimmt. Fast alle Bundesländer haben mittlerweile per Landesverordnung den Einsatz von Nachbarschaftshelfern und -helferinnen geregelt. Dabei geht es um alltägliche Hilfen wie Begleitung beim Einkaufen und beim Gang zum Arzt, Unterstützung beim Ausfüllen von Anträgen und Formularen oder um ein wenig Gesellschaft beim Spazierengehen. Finanziert werden die ehrenamtlichen Kräfte in der Regel über den sogenannten Entlastungsbetrag der Pflegekassen von aktuell 131 Euro im Monat. Im kommenden Jahr wird es voraussichtlich eine bundesweit einheitliche Regelung für Unterstützungsangebote im Alltag geben. Ein Gesetzentwurf zur Reform der Pflege wurde im August vom Kabinett verabschiedet und steht im Herbst zur Abstimmung im Bundestag.

Zu wenig Geld, zu viel Bürokratie?

Fest steht auch: ›Nächstenpflege‹ ist eine starke psychische und physische Belastung. Eine weitere ZQP-Studie über pflegende Angehörige kommt zu dem Ergebnis, dass jeder Zweite bereits Gewalt durch den pflegebedürftigen Menschen erlebt hat. Etwa 40% der Befragten räumten ein, dass sie selbst schon einmal gewaltsam gegen den Pflegebedürftigen gehandelt hätten. Hinzu kommen häufig finanzielle Probleme. Etwa jede zweite Pflegende muss im regulären Job kürzertreten. Sozialverbände fordern deshalb seit Jahren auch eine stärkere finanzielle Unterstützung der häuslichen Pflege und eine Vereinfachung des Leistungssystems, das viele pflegende Angehörige überfordere und frustriere.

Mit der Pflegereform 2023/24 wurden zumindest die Regeln für Verhinderungs- und Kurzzeitpflege vereinfacht. Seit Juli dieses Jahres gibt es ein Entlastungsbudget von jährlich 3.539 Euro, mit dem flexibel eine Pflegevertretung, sei es zu Hause oder in einem Pflegeheim, finanziert werden kann. Allerdings hält sich der Beifall der Sozial- und Pflegeverbände in Grenzen. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz ist überzeugt, dass das neue Budget wenig verändern wird, da es viel zu wenig Plätze für die Kurzzeit- und Verhinderungspflege gebe. Von den 16.000 Pflegeheimen würden gerade einmal 1.000 Einrichtungen Kurzzeitpflegeplätze anbieten, kritisiert Stiftungsvorstand Eugen Brysch.

Mangel an Tagespflege-Angeboten

Der Verein Wir pflegen, die Interessenvertretung und Selbsthilfe pflegender Angehöriger, bedauert vor allem, dass die Tagespflege nicht in das neue Jahresbudget einbezogen wurde. Für pflegende Angehörige, die weiterhin ihrer regulären Arbeit nachgehen, sei die Tagespflege eine wichtige Entlastung, sagt Vorstandsmitglied Edeltraut Hütte-Schmitz. Allerdings sei die Chance, einen Platz zu finden, ähnlich schwierig wie bei der Kurzzeitpflege. Deutschlandweit stünden für weniger als drei Prozent der pflegebedürftigen Menschen Tagespflegeplätze zur Verfügung. Insbesondere für schwerstpflegebedürftige Menschen, die während der Arbeitszeit ihrer pflegenden Angehörigen nicht allein zu Hause bleiben können, gebe es keine ausreichenden Angebote. Ein Ausbau der Pflegeinfrastruktur und ein flexibles Budget seien entscheidend, damit Pflege nicht länger zur Armutsfalle werde.

Wer pflegt, verdient Anerkennung und gesellschaftliche Unterstützung.

Der vom Bundesfamilienministerium eingesetzte unabhängige Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf hat die Einführung eines Familienpflegegelds als Lohnersatzleistung vorgeschlagen, damit sich Menschen ohne Existenzangst um ihre Angehörigen kümmern können. Für den Vorsitzenden des Beirats, den Gerontologen Andreas Hoff, ist ein Familienpflegegeld nach dem Vorbild des Elterngelds eine Form überfälliger Wertschätzung. »Wer pflegt, verdient Anerkennung und gesellschaftliche Unterstützung.« Bislang werde die Pflege in Deutschland wie eine Privatsache behandelt. »Es wird so getan, als gebe es eine unausgesprochene Verpflichtung, dass Angehörige, vor allem Frauen, die Pflege in der Familie übernehmen.« Dabei liege die Verantwortung dafür, »dass in unserem Land Menschen in Würde altern und gepflegt werden, bei der Gesellschaft«.

Unzeitgemäße Rollenverteilung

Zudem sei die traditionelle Arbeits- und Rollenverteilung in der Angehörigenpflege, wonach fast ausschließlich Frauen pflegen, dafür ihre Arbeitszeit reduzieren oder ihre Berufstätigkeit ganz aufgeben um den Preis der Altersarmut, nicht mehr zeitgemäß. »Das Sozialsystem orientiert sich an einem Erwerbsmodell, dass nicht mehr existiert«, sagt Hoff. Frauen seien heute ebenso erwerbstätig wie Männer, durch die Erhöhung des Renteneintrittsalters auch noch in den Jahren, in denen Angehörige häufig pflegebedürftig werden. »30 Jahre lang haben wir uns auf der Pflegeversicherung ausgeruht, auf deren Einführung wir sehr stolz waren – nun passt sie nicht mehr«, sagt der Gerontologe Hoff. Den Handlungsbedarf sieht mittlerweile auch die Politik. Bereits die rot-grüne Koalition signalisierte Unterstützung für den Beirats-Vorschlag. Allerdings kam es nicht mehr zur erhofften Gesetzesinitiative. Auch im aktuellen Koalitionsvertrag von Union und SPD wird das Familienpflegegeld erwähnt. Die Umsetzung ist jedoch ungewiss. Auf die Frage, wann Pflegende mit einem Familienpflegegeld rechnen könnten, antwortete die zuständige Bundesfamilienministerin Karin Prien zurückhaltend: »Wir prüfen, wie perspektivisch ein Familienpflegegeld eingeführt werden kann.« Hoff ist dennoch optimistisch: »Wenn die Ministerin ihre angekündigte Unterstützung wahr macht, bin ich begeistert.«

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