Fast 10.000 rechtsextrem motivierte Straftaten hat die Polizei im ersten Halbjahr 2024 registriert, darunter ein versuchtes Tötungsdelikt, sechs Brandstiftungen, zwei Sprengstoffdelikte, mehr als 250 Körperverletzungen. Wie wird aus politischen Überzeugungen Gewalt? forum hat nachgefragt bei Dr. Janine Dieckmann, Sozialpsychologin und stellvertretende wissenschaftliche Leiterin des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena.
Nimmt politisch und ideologisch motivierte Gewalt durch Krisen zu?
Grundsätzlich sind Zeiträume oder Situationen, die als Krise bezeichnet werden, immer von starker Unsicherheit, Komplexität und Überforderung gekennzeichnet. Bisher gültige Kriterien zur Beurteilung von richtig und falsch, bisherige Handlungsorientierungen werden oder müssen in Frage gestellt werden. Es braucht Veränderung und Anpassung im Denken und Handeln. Das gilt für private wie gesellschaftliche Krisen, für langfristige Krisen wie die Klimakrise, aber auch für akut auftretende Krisen wie die Coronakrise. Dagegen hilft für viele Menschen das Festhalten an gewohnten Überzeugungen. Dabei spielen zwar auch persönlichkeitsbezogene Gründe wie Frustrationstoleranz, Offenheit für Neues und Reflexionsfähigkeit eine Rolle. Aber bei gesellschaftlichen Krisen wird das individuelle Denken und Handeln stark von gesellschaftlich geprägten Vorurteilen beeinflusst. Menschen sind offener für vermeintlich einfache Lösungsangebote.
Rechtsextremistische Narrative und Ungleichwertigkeitsvorstellungen wie Rassismus oder Antisemitismus docken also in Krisenzeiten eher im Mainstream an. Und um gegen Veränderungen vorzugehen, kann auch die individuelle Gewaltbereitschaft steigen. Also ja, auf diese Dimensionen von Krisenzeiten geschaut, können sie zu erhöhtem Auftreten von politisch und ideologisch motivierter Gewalt führen.
Inwiefern entscheiden Krisen darüber, wer Opfer und wer Täter ist?
Themenbereiche der Krise sind auf jeden Fall mitbestimmend. Ein erster Reflex ist beispielsweise immer die Schuldzuweisung. So gab es zu Beginn der Coronakrise vermehrt Angriffe aufgrund antiasiatischen Rassismus. Plötzlich wurden Menschen körperlich angegriffen, weil ihnen eine asiatische Herkunft zugeschrieben wurde. Das zeigt, dass es in Krisenzeiten durchaus gesellschaftliche Teilgruppen geben kann, die aufgrund der Krisenthematik als die Anderen oder die Schuldigen kategorisiert werden und deshalb vermehrt Opfer von Gewaltangriffen werden. Aus Sicht der Diskriminierungsforschung ist dies wenig überraschend. Alle Menschen lernen von klein auf soziale Kategorisierungen und Vorurteile, die Menschen einteilen als ›gleichwertiges Gesellschaftsmitglied‹ oder als ›anders, nicht normal und abweichend‹. Institutionen und Diskurse reproduzieren diese beständig. In Krisenzeiten bekommen Ungleichwertigkeitsideologien besondere entscheidungs- und handlungsweisende Bedeutung.
In Krisenzeiten bekommen Ungleichwertigkeitsideologien besondere entscheidungs- und handlungsweisende Bedeutung.
So wurden beispielsweise ältere Menschen oder Menschen mit Behinderungen in Coronazeiten häufig unter der Bezeichnung ›Alte und Schwache‹ zusammengefasst und teilweise auch von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen, obwohl keine relevante Vorerkrankung vorlag. Auch Berufsgruppen wie Rettungskräfte und Gesundheitspersonal können vermehrt Opfer von politischer Gewalt werden, weil sie als vermeintliche Vertretungen von ›denen da oben‹ gesehen werden.
Inwiefern führen bestimmte Narrative dazu, dass Gewalt gegenüber Teilgruppen ›legitimiert‹ wird? Welche Rolle spielen dabei soziale Netzwerke?
Die wahrgenommene Legitimation von anderen für das eigene Verhalten spielt eine zentrale Rolle in der Ausübung von politisch motivierter Gewalt: ›Das, was ich tue, ist richtig, das sehen viele Menschen, die so denken wie ich, auch so. Ich tue das für uns.‹ Diese Legitimation kann durch anwesende Personen wahrgenommen werden. Personen, die mitmachen, aber – ganz wichtig – auch durch Personen, die wegschauen. Und diese Legitimation für die eigene Gewalt kann auch durch abwesende Menschen ›geholt‹ werden. Dafür kommen dann auch politische oder ideologische Narrative ins Spiel. Sie liefern die passenden Geschichten, Bilder und Vorurteile als vermeintliche Erklärungen zur Rechtfertigung von Gewalt. Online-Netzwerke bilden einen größeren Raum, in dem sich globale Entwicklungen verbreiten. Es gibt weniger Hürden, sich Informationen zu suchen und zu verbreiten, die die eigenen Überzeugungen bestätigen. Aufgrund von Algorithmen bewegen sich Menschen in ihrer eigenen Informationsblase und nehmen mehr Legitimation wahr. Hate Speech verbreitet sich mehr und schürt auch offline mehr Aggressivität. Die Wahrnehmung, dass dann auch physische Gewalt gegen bestimmte Teilgruppen der Gesellschaft von einem Großteil von Menschen legitimiert und erwünscht ist, steigt.
2023 wurden 29.000 Straftaten dem rechten Spektrum zugeordnet. 2021 wurde Rechtsextremismus von der Bevölkerung als größte Bedrohung für Deutschland wahrgenommen – dennoch wächst die Zustimmung zu rechten Kräften. Wie passt das zusammen?
Der Rechtsextremismus bündelt alle Ungleichwertigkeitsideologien und radikalisiert sie politisch. Zur Radikalisierung gehört auch die Rechtfertigung von Gewalt. Dass im Mai 2024 ein Stein mit der Aufschrift ›Euthanasie ist die Lösung‹ in das Fenster einer Einrichtung der Lebenshilfe in Mönchengladbach fliegt, zeigt diese Gewaltbereitschaft und Gefahr für bestimmte Teilgruppen in unserer Gesellschaft und damit für unsere demokratischen Prinzipien allgemein. Rechtsextreme Akteure nutzen dabei historisch verankerte Überzeugungen der Ungleichwertigkeit, um mit ihren Positionen immer weiter in der Gesellschaft anzudocken.
Rechtsextreme Akteure nutzen dabei historisch verankerte Überzeugungen der Ungleichwertigkeit, um mit ihren Positionen immer weiter in der Gesellschaft anzudocken.
Die hohen Wahlergebnisse für die AfD zeigen, dass dieser Mechanismus aufgeht. Sie findet auch Zustimmung bei Menschen, die sich in ihrem eigenen Verständnis nicht als rechtsextrem einordnen. Sie sind aber dafür, dass traditionelle Grundüberzeugungen einer weniger komplexen Gesellschaft in Richtung Homogenität wieder gestärkt werden sollten. Sie nehmen rechtsextreme Positionen in Kauf und stärken sie politisch, indem sie die Abschiebung von Menschen mit Migrationsgeschichte befürworten, sich gegen geschlechtliche Vielfalt und queere Lebensweisen, gegen die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und gesellschaftliche Weiterentwicklung und Gleichwertigkeit positionieren.
Was führt zur Eskalation von Gewalt? Was führt dazu, dass jemand tatsächlich ein persönliches Opfer auswählt, um daran Gewalt auszuüben?
Menschen oder Orte, die für politisch motivierte Straftaten ausgewählt werden, stehen immer für eine bestimmte gesellschaftliche Teilgruppe. Die Straftat ist dann eine Botschaft, die gegen diese Teilgruppe gerichtet ist. Das einzelne Opfer wird also nicht aufgrund personalisierter Kriterien gewählt, sondern als Stellvertretung einer Teilgruppe. Wenn sich jemand entschließt, aus politischen Motiven Gewalt anzuwenden, dann kommen zu einem gesellschaftlich geschürten Gefühl der Unzufriedenheit konkrete ideologisch bestimmte Gesellschaftsbilder dazu, die vermeintlich beschützt werden müssen.
Wie kann ein Übergriff verhindert werden?
Zunächst staatlich durch die konsequente Anerkennung und Benennung von politischen und ideologischen Motiven in der Strafverfolgung. Auch jenseits des Labels ›Rechtsextremismus‹ müssen Straftaten aufgrund von gesellschaftlichen Ungleichwertigkeitsvorstellungen wie Rassismus, Sexismus, Heteronormativität oder Ableismus mehr Beachtung finden und zu höheren Strafen führen. Gesellschaftlich durch Unterstützung und den Schutz von potenziell betroffenen Menschen, durch das Widersprechen gegen rückwärtsgewandte und rechte Gesellschaftsvorstellungen und durch deutlich geäußerte Solidarität mit betroffenen Gesellschaftsgruppen. Denn wenn die sogenannte Mehrheitsgesellschaft nicht auf Straftaten reagiert und Unverständnis signalisiert, sendet das eine Botschaft der Legitimation. Auch in privaten Räumen ist es wichtig, Gewalttaten zu widersprechen und ihnen damit die Legitimation zu entziehen, sofern man sich sicher genug fühlt. Im Sinne einer gesellschaftlich dringend notwendigen Antidiskriminierungsarbeit ist das Auseinandersetzen mit eigenen Überzeugungen über Gesellschaftsbilder und Ungleichwertigkeitsvorstellungen nicht nur bei Einzelpersonen, sondern in allen Institutionen wichtig.