Hierzulande weitgehend aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verschwunden, treten »alte« Krankheiten wie zum Beispiel Tuberkulose, Krätze und Keuchhusten wieder häufiger auf. Wie kommt das?
Heute sind viel mehr Menschen weltweit unterwegs: Der durch Globalisierung beförderte rege Austausch von Waren und Personen verbreitet Viren und Bakterien immer rascher um die Welt. Aber auch Antibiotikaresistenzen, fehlende Impfungen, sich verändernde Umweltbedingungen, der Klimawandel und Klimaanlagen begünstigen die Verbreitung von Bakterien und führen zum Erstarken von Krankheiten, die ›ausgestorben‹ schienen oder zumindest unterbrochen waren.
Die Wiederkehr ›alter‹ Krankheiten wird zudem durch Naturkatastrophen, Kriege und eine schlechte Gesundheitsversorgung befördert. Gänzlich ausgerottet unter den menschlichen Infektionskrankheiten sind bisher die Pocken – nach jahrzehntelanger, weltweiter Impfkampagne der WHO. Seuchen wie Pest und Lepra treten in einigen Ländern fern von Europa immer noch endemisch auf. Gleiches gilt für Malaria – jedes Jahr werden 500 Millionen Menschen weltweit von Malaria befallen, zwei Millionen sterben daran. Dabei tritt die Erkrankung auch in Gegenden auf, in denen die Übertragung längst unterbrochen war.
Tuberkulose – eine der häufigsten Todesursachen
Die früher als »Schwindsucht« bezeichnete Tuberkulose ist eine der weltweit zehn häufigsten Todesursachen (2021 starben schätzungsweise 1,6 Millionen daran). Ein Drittel der Weltbevölkerung ist infiziert, jährlich erkranken 3 Millionen Menschen, mit steigender Tendenz. Insbesondere während der Corona-Pandemie waren Diagnostik und Behandlung stark eingeschränkt. Aufgrund der günstigen epidemiologischen Lage in Deutschland wird seit 1998 eine Impfung nicht mehr empfohlen. Die Zunahme der Fälle in den Jahren 2015 und 2016 (2008: 4537, 2015 und 2016: jeweils rund 6000 Fälle) hängt laut RKI mit einer erweiterten Falldefinition sowie mit dem vermehrten Testen von Menschen zusammen, die aus Kriegs- und Krisengebieten nach Deutschland geflüchtet sind und hier Asyl suchen. Drei Viertel aller Erkrankten sind im Ausland geboren. »Flüchtlinge sind in Bezug auf Infektionen wie Tuberkulose keine Gefahr für die Bevölkerung, sie selbst stellen aber eine höchst gefährdete Gruppe, unter anderem wegen der Flucht- und schlechten Lebensbedingungen sowie einem anderen Risikoverständnis für die Gefahren von Infektionen, dar«, so Prof. Dr.med. August Stich von der Klinik für Tropenmedizin am Klinikum Würzburg Mitte. Die gute Nachricht: Seit 2016 sinken die TuberkuloseFallzahlen wieder – zuletzt auf 2619 Fälle im Juli 2023.
Krätze auf dem Vormarsch
Die Ursachen für die Wiederkehr der Krätze (Skabies) – weltweit eine der häufigsten Hauterkrankungen überhaupt – sind unklar. Zahlen aus Arzneimittelreporten, Krankenhäusern und Studien belegen eine deutliche Fallzunahme in Deutschland. So ist laut RKI unter Berufung auf Abrechnungsdaten niedergelassener Ärztinnen und Ärzte allein im Jahr 2018 bei über 380000 Menschen Skabies diagnostiziert worden – neunmal mehr als 2009.
Auch Prof. Dr.Matthias Augustin, Direktor des Instituts für Versorgungsforschung in der Dermatologie und bei Pflegeberufen am UKE Hamburg, weist auf eine steigende Versorgungsprävalenz hin: Zwischen 2010 und 2015 hätten die Behandlungsfälle im ambulanten Bereich um fast 53% zugenommen. Zahlen der Barmer zufolge wurden im Jahr 2017 insgesamt 60% mehr Medikamente gegen die Hautkrankheit verschrieben als noch im Vorjahr. Da die Erkrankung nur meldepflichtig ist, wenn Gemeinschaftsunterkünfte wie etwa Alten- und Pflegeheime, aber auch Kindergärten, Schulen, Gefängnisse oder Notunterkünfte betroffen sind, ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.
Krätzemilben gehören zu den Spinnentieren und breiten sich besonders gern dort aus, wo viele Menschen auf wenig Raum zusammenkommen und/oder engen Kontakt haben. Bis zu 30 Minuten lang gräbt sich die befruchtete, weibliche Milbe in die menschliche Epidermis, um dort Eier und Kot abzulegen. Die durch die Milben in der menschlichen Haut abgesonderten Ausscheidungsprodukte zerfallen und lösen eine Überreaktion des Immunsystems aus, die sich in starkem Juckreiz, Bläschen und Krustenbildung auf der menschlichen Haut zeigt. Bei intaktem Immunsystem hält die Immunreaktion des Körpers die Milbenzahl auf einem relativ niedrigen Niveau. Trotz hartnäckiger Vorurteile gilt: Krätze kommt grundsätzlich in allen sozialen Schichten vor und wird nicht immer sofort erkannt. Denn laut Expertenmeinung hat sich das klinische Erscheinungsbild der Erkrankung im Laufe der Zeit verändert und ähnelt heute oft eher einem Hautekzem. So dauert es mitunter länger bis zur richtigen Diagnose und Betroffene können mehr Menschen infizieren.
Impfmüdigkeit als eine Ursache?
Auch Masern und Keuchhusten sind Beispiele für bereits verdrängte Infektionskrankheiten, die mit zeitweise steigenden Fallzahlen in Deutschland Aufmerksamkeit erregen. Einerseits wurden während der Corona-Pandemie weniger Kinder geimpft, andererseits führte eine allgemeine Impfskepsis zu einer gesunkenen Herdenimmunität. Die Folge: Weltweit stiegen die Masernfälle rapide an: 2019 gab es die höchste Infektionsrate seit 23 Jahren, und deutlich mehr Menschen sind an Masern gestorben als in den Jahren zuvor (2016: 90000, 2019: 207 500 Tote). Die vom RKI registrierten Masern-Fälle in Deutschland schwanken von Jahr zu Jahr teilweise erheblich. 2001, dem Einführungsjahr der Meldepflicht, gab es mehr als 6000 gemeldete Fälle hierzulande, 2015 waren es 2465, 2016 lediglich 327 und 2022 nur 15. Laut RKI gehört Deutschland dennoch aktuell zu den Ländern mit ungenügenden Masernimpfquoten.
Auch steigende Fallzahlen für Keuchhusten sind – mit Ausnahme der Corona-Pandemiejahre – übermittelt (2014: 16 655, 2016: 13 895, 2017: 26 834, Quelle RKI). Um 1900 gehörte diese Infektion in Deutschland zu den häufigsten Todesursachen bei Kleinkindern. Säuglinge, zu jung für eine Erstimpfung, sind besonders durch schwere Krankheitsverläufe und das Risiko eines Atemstillstands gefährdet. Sie werden hauptsächlich von älteren Kindern oder Erwachsenen ohne ausreichenden Impfschutz angesteckt.
Umweltbedingungen und Antibiotikaresistenzen
Noch unzureichend belegt, bergen der Klimawandel und die damit einhergehenden veränderten Umweltbedingungen Risiken für eine Wiederkehr längst vergessener Erreger. 2016 tauten ungewöhnlich hohe Temperaturen sibirische Permafrostböden auf und aktivierten beispielsweise den sogenannten Milzbrand-Erreger, der sich in einem im Permafrost schlummernden Kadaver eines vor etwa 70 Jahren verendeten Rentiers befunden haben soll. Erregersporen infizierten die auf den Weideflächen lebenden Rentiere und in Folge steckten sich Menschen durch das verzehrte Fleisch an. In industrialisierten Regionen bleibt die Erkrankung bisher äußerst selten und ist nur unbehandelt gefährlich.
Veränderte klimatische Verhältnisse führen dazu, dass auch in unseren Breitengraden Krankheiten auftreten, die es zuvor hier noch nie gab. Die Asiatische Tigermücke, die Tropenkrankheiten wie Zika, Chikungunya, West-Nil-Fieber und Denguefieber überträgt, breitet sich durch mildere Winter und höhere Sommertemperaturen bei uns immer weiter aus. Nicht nur für diese Tropenkrankheiten gilt: Antibiotika können schwere Verläufe bakteriell verursachter Infektionen verhindern. Zu häufige und fehlerhafte Gaben haben jedoch weltweit zu einer zunehmenden Resistenz von Bakterien gegen Antibiotika geführt. Solche Antibiotikaresistenzen spielen beim Erstarken alter Krankheiten durchaus eine Rolle, weil sie zu längeren, deutlich schwereren oder überhaupt nicht mehr behandelbaren Infektionsverläufen führen.
Ob Tuberkulose, Malaria, Masern, Milzbrand oder Krätze – das Auftauchen der »alten« Erkrankungen bedeutet heute keine generelle Gefährdung für die Menschen hierzulande. Doch gerade angesichts sich verändernder Umweltfaktoren und zunehmender Mobilität mit mehr Reisenden, Geflüchteten und Zuwanderern wird die Früherkennung von Infektionskrankheiten entscheidend sein, um schnellstmöglich Therapiemaßnahmen einleiten zu können, die Heilung versprechen und eine Ausbreitung verhindern.