In Deutschland wurden 2022 dreimal mehr Antidepressiva verordnet als im Jahr 2000. Die Medikamente kommen nicht nur bei Depressionen, sondern auch bei chronischen Schmerzen und Angststörungen zum Einsatz.
Zwischen 8 und 10% der Erwachsenen hierzulande werden Antidepressiva verordnet. Doch sind die angeblichen Stimmungsaufheller tatsächlich so harmlos, wie es den Anschein erweckt, oder machen wir uns womöglich von Medikamenten abhängig, die wir im Kern noch nicht verstanden haben?
Laut der Deutschen Depressionshilfe gehören Depressionen zu den häufigsten und am meisten unterschätzten Erkrankungen. Etwa jeder fünfte bis sechste Erwachsene erkrankt mindestens einmal im Leben an einer Depression. Sowohl Psychotherapie als auch Pharmakotherapie (Medikamentenbehandlung) mit Antidepressiva kommen als Therapie infrage – oft in Kombination. Mitunter werden ergänzend auch somatische Therapien, darunter Lichttherapie, therapeutischer Schlafentzug, Rehabilitationssport, durchgeführt.
Verschiedene Wirkweisen
Antidepressiva sind in Deutschland seit rund dreißig Jahren zugelassen und werden je nach Wirkweise in verschiedene Gruppen eingeteilt. Beispielsweise gibt es Medikamente aus den Gruppen der tri- und tetrazyklischen Antidepressiva sowie der selektiven Serotonin-Rückaufnahmeinhibitoren (SSRI). Sie alle wirken auf Signalübertragungsprozesse im Gehirn. Die SSRI verhindern die Wiederaufnahme von Serotonin in die Nervenzellen und erhöhen dadurch die freie Serotonin-Konzentration. Die beiden anderen Gruppen wirken deutlich unspezifischer: Sie hemmen eine Vielzahl an Rezeptoren im Gehirn, wodurch sie gleich mehrere Signalwege verändern. Trotzdem erhöhen auch sie den Serotoninspiegel.
Die These, dass Depressionen durch eine geringere Konzentration des sogenannten Glückshormons Serotonin entstehen, ist jedoch längst verworfen. Die genaue Krankheitsgenese der Depression bleibt weiterhin ungeklärt. Nichtsdestotrotz belegen klinische Studien die antidepressive Wirkung der Arzneimittel vor allem bei schweren Depressionen. Während der Mechanismus hinter der erwünschten Wirkung der Antidepressiva noch unklar ist, sind zumindest die unerwünschten Nebenwirkungen weitestgehend bekannt. Zu den häufigsten gehören innere Unruhe, Gewichtszunahme, Mundtrockenheit, Übelkeit, Herzrhythmusstörungen, Gelenkschmerzen sowie sexuelle Funktionsstörungen. Gefährlich ist insbesondere bei den SSRI die Steigerung des Suizidrisikos. Diese paradoxe Nebenwirkung entsteht dadurch, dass in den ersten Wochen der Einnahme die Antriebssteigerung vor der Stimmungsaufhellung auftritt. Betroffene mit bereits bestehendem Sterbewunsch sind nach Beginn der SSRI-Therapie besonders vulnerabel und es bedarf einer engmaschigen Betreuung.
Der regelmäßige Griff zur Tablette birgt generell nicht nur die Gefahr von Nebenwirkungen, sondern führt häufig auch zu Problemen beim Absetzen, das durch Entzugssyndrome erschwert werden kann.
Ungleichgewicht zwischen Antidepressiva und Psychotherapien
Die Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) zum Thema Depression sieht die Erfolgsaussichten der Psychotherapie im Vergleich zur Medikamenteneinnahme bei mittleren und schweren Depressionen als gleichwertig an. Trotzdem wird beides unterschiedlich eingesetzt: 2022 publizierte die AOK Niedersachsen eine Studie, wonach bei schweren Depressionen in 60% der Fälle Antidepressiva verordnet wurden, während lediglich 10% der Betroffenen eine Psychotherapie erhielten.
Prof. Dr. Tom Bschor, Psychiater und Co-Autor der Nationalen VersorgungsLeitlinie zum Thema Depression, vermutet folgende Gründe: »Oft wird die Erfahrung gemacht, dass es schwierig ist, einen Therapieplatz zu bekommen. Man ruft den Therapeuten an, achtmal geht der Anrufbeantworter ran, einer von den acht ruft zurück und sagt dann, er hat keinen Therapieplatz oder erst in zwölf Monaten. Die Ärzte sagen dann vielleicht: Mein letzter Patient hat da auch Schwierigkeiten gehabt, ich verschreibe Ihnen mal lieber ein Medikament.« Nach Bschors Auffassung ist die psychotherapeutische Versorgungssituation in Deutschland im europäischen Vergleich gut– zumal die Leistung Psychotherapie zu 100% von den Krankenkassen übernommen würde.
Gleichwohl werden immer wieder Versorgungsengpässe und lange Wartezeiten auf einen Therapieplatz angemahnt. Von der ersten Sprechstunde bis zur ersten genehmigten Therapiestunde betrage die durchschnittliche Wartezeit fünf Monate (142 Tage), hat die Bundespsychotherapeutenkammer 2022 kritisiert. Für viele Betroffene, die schnelle Hilfe suchen, ist das sehr lang.
Alternativen zu Antidepressiva?
Während Psychotherapie und medikamentöse Behandlung in der Regel erst bei mittelschweren depressiven Episoden empfohlen werden, können bei leichten Depressionen ›niedrigintensive‹ Maßnahmen helfen. Hierzu zählen Aufklärung über das Krankheitsbild, Anleitung zur Tagesstrukturierung, regelmäßige Bewegung und das Erlernen von Entspannungstechniken. »Und zusätzlich gibt es die neuen digitalen Gesundheitsanwendungen«, erklärt Bschor. Aktuell sind 27 DiGA für psychische Erkrankungen im Verzeichnis des Bundesamtes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gelistet. Belastbare Studien zur Wirksamkeit von DiGA bei Depressionen stehen zum Teil noch aus.
Dass Betroffene mitunter eher Tabletten einnehmen möchten, statt über Alternativen nachzudenken, liege auch an dem Begriff ›Antidepressiva‹, vermutet Bschor. Dieser suggeriert ›99,9% Zuverlässigkeit‹ wie bei der Antibabypille. Das lasse sich allerdings in keiner Weise auf Antidepressiva übertragen.
Neben der Einstellung der Patientinnen und Patienten spiele auch das Verordnungsverhalten der Ärztinnen und Ärzte eine Rolle. Tom Bschor beschreibt das so: »Es ist eine scheinbar einfache und schnelle Lösung in der Arztpraxis: Rezept ausstellen, eine Tablette morgens, kommen Sie in sechs Wochen wieder.« Das sei aber keine leitliniengerechte und adäquate Behandlung. »Antidepressiva wirken auch nur sehr gering, wenn man sie nicht wenigstens in Basismaßnahmen der psychotherapeutischen Führung und des Vertrauensaufbaus einbettet.«
Auch die deutsche Depressionsliga empfiehlt zusätzliche Unterstützung bei medikamentöser Therapie und bietet verschiedene Selbsthilfeangebote und Aufklärungsprogramme für Betroffene und deren Angehörige an.
Ausblick
Für die Zukunft wünscht Bschor sich, »dass wir die vorhandenen Kapazitäten effektiver nutzen«. Gruppentherapie statt Einzeltherapie könnte hierbei zum Beispiel ein Baustein sein, da auf diese Weise mehr Therapieplätze und damit ein schnellerer Zugang zu Hilfsangeboten ermöglicht werden. Aber auch neuere Forschungsansätze und die Weiterentwicklung von Medikamenten und Substanzen sollte man im Auge behalten. So blickt Bschor zum Beispiel auf die Wirkungsweise des Psychedelikums Psilocybin, das aus halluzinogenen Pilzen gewonnen wird und vielversprechende Ergebnisse bei Studien zur Behandlung von Depressionen gezeigt habe. Wie immer bei neuen Studien müssten diese Erfolge erst noch in großen Studien überprüft werden.
Mit einer definitiven Einschätzung ist Bschor zurückhaltend: »Es gibt absolut die Möglichkeit, dass sich das alles in Luft auflöst. Das haben wir schon öfter bei neuen, tollen Verfahren gesehen. Es könnte aber auch sein, dass das die Pharmakotherapie revolutioniert und wir in 15 Jahren ein bisschen erschüttert auf die Zeit der Antidepressiva zurückblicken.«
Fazit: Es scheint also viele Ansätze zu geben, wie Menschen mit Depressionen geholfen werden kann. Die Frage bleibt, wie in akuten Krisen schnelle und adäquate Hilfe zur Verfügung gestellt werden kann – ohne lange Wartezeiten auf Therapieplätze und Skepsis gegenüber Medikamenten, über die selbst die Forschung (noch) nicht alles weiß.