Bis auf das vor kurzem verabschiedete und von Wissenschaft und Industrie gelobte Medizinforschungsgesetz hat die gescheiterte Ampelkoalition in der Arzneimittelversorgung kein Problem kausal gelöst: Die Versorgung mit Generika bleibt kritisch, und im Segment der innovativen patentgeschützten Medikamente explodieren die Kosten.
Rund 80% aller Arzneimittelverordnungen sind Generika, sie bilden das Rückgrat der Grundversorgung. Sie so billig wie eben möglich zu machen, um damit Spielraum für Innovationen zu erhalten, stößt an Grenzen.
Rund 500 Fertigarzneimittel sind derzeit von Lieferengpässen betroffen. Gleichwohl sieht das Bundesgesundheitsministerium die Lage nicht mehr ganz so kritisch wie noch vor einem Jahr: Die Versorgung mit Kinderarzneimitteln sei »grundsätzlich stabil«, die mit Fiebersäften inzwischen »sehr gut«, so BMG-Abteilungsleiter Thomas Müller. Nur bei Amoxicillin und Penicillin und salbutamolhaltigen Dosieraerosolen gilt die Versorgungslage noch als »angespannt«. Für die kommenden Monate erwartet das BMG überwiegend Entspannung. Aus Ministeriumssicht zeigt das im Sommer 2023 verabschiedete Gesetz zur Bekämpfung von Lieferengpässen (ALBVVG) erste Wirkungen. Mit diesem Gesetz wurden Festbeträge und Preise für Kinderarzneimittel und Antibiotika um 50% angehoben, bei Rabattverträgen, ab 2025 wirksam, muss europäische Herstellung berücksichtigt werden.
Generika-Hersteller: Kapazitätsausbau lohnt sich nicht
Die Generika-Industrie bleibt unzufrieden. Das Gesetz sei halbherzig und betreffe nur kleine Segmente des Marktes. Das sei kein ausreichender Anreiz, die Produktion in Europa auszubauen. Bei Kinderarzneimitteln und Antibiotika arbeite man nach wie vor an der äußersten Kapazitätsgrenze; Versorgungsengpässe seien nicht ausgeschlossen.
Vor dem Hintergrund des scharfen Preiswettbewerbs und der Kostenvorteile ist die Produktion generischer Arzneimittel und Wirkstoffe überwiegend nach China und Indien wegen der dort vorhandenen Kostenvorteile verlagert worden. Dort werden an 162 Standorten Antibiotika produziert, in Europa sind es noch 54 (meist Italien), in den USA nur noch einer.
Die Zitrone auf dem Generikamarkt ist ausgepresst.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung sind sich deutsche Gesundheitspolitiker und auch Krankenkassenvertreter bewusst, dass die Zitrone auf dem Generikamarkt ausgepresst ist und Ersparnisse zur Finanzierung von Innovationen nicht mehr zu erwarten sind. Dabei boomt das Segment der innovativen Arzneimittel. Das hat verschiedene Gründe.
Innovationen: keine Markteintrittshürden
Mit einigem Stolz verweist der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses, Prof. Josef Hecken, darauf, dass es in Deutschland im Durchschnitt nur 47 Tage dauert, bis ein in der EU neu zugelassenes Arzneimittel für die Versorgung verfügbar ist. Im nächstschnellsten Land Dänemark dauert es 109 Tage, in Frankreich 461 Tage. Hinzu kommt: Von den 167 zwischen 2019 und 2022 neu zugelassenen Arzneimitteln sind 147 (87%) auf dem deutschen Markt und werden ohne Beschränkung erstattet. In allen anderen Ländern sind dies 60% oder auch deutlich weniger. Das Gleiche gilt auch für Orphan Drugs. An diesem einmaligen Zustand, in dem auch die forschende Industrie einen entscheidenden Vorteil des deutschen Marktes sieht, will keiner der Stakeholder etwas ändern.
Preis- und Mengendynamik
Der Innovationsschub der letzten Jahre hat eine doppelte Wachstumsdynamik für die Ausgaben zur Folge: Die Zahl der Orphan-Verordnungen stieg zwischen 2010 und 2020 um 370%, die Ausgaben um 544% auf gut 7,1 Milliarden Euro.
Bei den Onkologika, einem besonders innovativen Segment, wuchs die Zahl der Verordnungen in diesem Zeitraum um 45%, die Ausgaben stiegen um 112% auf 10,6 Milliarden Euro, ein Fünftel der GKV-Arzneiausgaben.
Das heißt: Einerseits werden immer mehr Patientinnen und Patienten auch mit innovativen Arzneimitteln behandelt, andererseits ist ein Trend zu höheren Einstiegspreisen und Erstattungsbeträgen zu erkennen.
Ursächlich dafür ist der AMNOG-Mechanismus: Danach wird im ersten Schritt der Zusatznutzen für eine neue Therapie im Vergleich zu einem etablierten Standard ermittelt. War diese Vergleichstherapie in den ersten Jahren des AMNOG häufig noch ein generisches Arzneimittel, so hatte dies auf die Preisgestaltung noch eine gewisse bremsende Wirkung bei Einführungspreisen und Erstattungsbetrag. Inzwischen sind fast alle Vergleichstherapien Innovationen, die schon eine Nutzenbewertung durchlaufen haben, so dass jeder anerkannte weitere Zusatznutzen zu steigenden Preisen und Erstattungsbeträgen führt. Das schlägt sich in Zahlen nieder. Nach Erhebungen des Bielefelder Gesundheitsökonomen Professor Wolfgang Greiner haben sich die Jahrestherapiekosten pro Patient im AMNOG-Gesamtmarkt von 104000 Euro zwischen 2011 und 2018 um 139% auf 249.000 Euro zwischen 2019 und 2023 erhöht. Genauso stark stiegen die Jahrestherapiekosten bei Orphan Drugs von 235.000 auf 556.000 Euro.
Es ist schwierig, ohne Leistungsbeschränkungen diese Dynamik zu bremsen. Das gilt (noch) als ausgeschlossen. Als kurzfristig wirksam haben sich ziemlich grobschlächtige Instrumente wie beispielsweise der erhöhte Abschlag auf Erstattungsbeträge durch das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKVFinStG) erwiesen: Das entlastete die Krankenkassen einmalig 2023 um 1,3 Milliarden Euro, erwartet worden waren eine Milliarde Euro. Andere Instrumente des Gesetzes haben bislang fast nichts gespart.
Ausgabenzuwachs ist nicht wertgestützt
Die Krankenkassen sehen das mit zunehmender Sorge: Die Arzneimittelausgaben haben die 50-Milliarden-Euro-Grenze überschritten (Budgetanteil 17%), sie liegen um rund vier Milliarden Euro über den Ausgaben für ambulante ärztliche Versorgung. Mit 660 Euro Pro-Kopf-Ausgaben für Medikamente liegt Deutschland EU-weit an der Spitze (Durchschnitt: 462 Euro). Dem steht aber ein unbefriedigender Gesundheits-Outcome gegenüber. Mit einer Lebenserwartung von 80 Jahren liegt Deutschland nur im OECD-Durchschnitt; und diese erhöht sich auch nur unterdurchschnittlich, stellt Dr. Antje Haas, Abteilungsleiterin Arzneimittel im GKV-Spitzenverband, fest.
Eine Erweiterung der Instrumente zur effektiveren Ausgabensteuerung ist schwierig und mit zusätzlicher Bürokratie verbunden: Der Versuch, insbesondere bei Orphan Drugs oder neuen Gentherapien durch anwendungsbezogene Datenerhebungen zusätzliche Evidenz für den Nutzen zu gewinnen, musste oft aufgegeben werden. Das wäre aber wichtig, denn der Ausgabenzuwachs in den letzten Jahren sei nicht wertgestützt, kritisiert Haas, weil im Rahmen der Zulassung zu wenig Evidenz für einen Zusatznutzen gewonnen werde.
Verschiedene Optionen
Auch neuere Instrumente gelten als schwierig in der Umsetzung: Pay-for-Performance-Verträge, sinnvoll etwa bei Einmaltherapien mit Heilungsversprechen, bedürfen präziser Definitionen der Erfolgs- oder Misserfolgsparameter, die jahrelang nachbeobachtet werden müssen. Eine weitere Option wären Ratenzahlungs-Verträge: Gezahlt würde nur so lange, wie der Erfolg andauert. Zur Diskussion steht auch die Erweiterung der frühen Nutzenbewertung zu einer Kosten-Nutzen-Bewertung. Hier könnten Effekte von Arzneiinnovationen auf Hospitalisierungsraten, Pflegebedürftigkeit, Arbeitsfähigkeit und Frühverrentung einbezogen werden. Aber auch dies erhöht den Managementaufwand.
Es sind also erhebliche intellektuelle Anstrengungen nötig, in der nächsten Legislaturperiode die Ausgabensteuerung für Arzneimittel wirksamer zu gestalten.
Dynamischer Markt
• Die Arzneimittelausgaben der GKV sind 2024 um 9,% auf 50,3 Mrd. Euro gestiegen; mitursächlich sind dabei auch teils politisch gewollte Sondereffekte.
• Der zum Jahresbeginn 2024 wieder von 12 und 7% gesenkte Herstellerrabatt erklärt 2,9% des Wachstums.
• Aufgrund der zunehmenden Bedeutung der Ambulanten Spezialfachärztlichen Versorgung sind die Arzneimittelausgaben allein hier um 730 Mio. Euro (plus 30%) gestiegen; das erklärt 1,7% des Wachstums.