Aus Daten lernen: Nationales Geburtenregister

Von Dr. Antje Enekwe Lesezeit 4 Minuten
Symbolbild: viele bunte Puzzleteile

Um die Versorgungsqualität von Schwangeren, Gebärenden und Neu­geborenen sicherzustellen und international vergleichen zu können, plädieren Fachleute für die Einführung eines Nationalen Geburtenregisters.

Deutschland gehört zu den Ländern mit den höchsten Gesundheitsausgaben, sowohl innerhalb der EU als auch weltweit. Trotzdem liegen wir bei wichtigen Kennzahlen wie der Frühgeborenenrate und der Zahl der Totgeburten nur im europäischen Mittel. Warum führen die hohen Gesundheitsausgaben hierzulande nicht zu besseren Ergebnissen in der Schwangerschafts- und Geburtsversorgung? Die Antwort ist ernüchternd: Wir wissen es nicht genau, weil entscheidende Daten fehlen.

Fehlende Daten bei der Müttersterblichkeit

Dass Frauen im Zusammenhang mit Schwangerschaft oder Geburt sterben, ist in Deutschland ein seltenes Ereignis. Laut Statistischem Bundesamt liegt die Müttersterblichkeit seit Jahren bei unter fünf Todesfällen auf 100.000 Lebendgeburten. Doch spiegeln die Zahlen die Realität wider? Eine Forschergruppe der Charité konnte jüngst zeigen, dass die Müttersterblichkeit in Berlin zwischen 2019 und 2021 mit 9,1 Todesfällen pro 100.000 Geburten doppelt so hoch war wie nach offizieller Statistik im gleichen Zeitraum angenommen. Ob die erhöhten Werte auf Berlin begrenzt sind oder es sich um ein bundesweites Phänomen handelt, weiß niemand. Wie erklärt sich diese Abweichung? Ganz einfach: Eine einheitliche Erfassung der Müttersterblichkeit, wie von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert, ist hierzulande nicht möglich und nicht verpflichtend. Die WHO definiert Müttersterblichkeit als jeden Todesfall einer Frau während der Schwangerschaft oder bis 42 Tage nach Ende der Schwangerschaft. Der Todesfall muss dabei im Zusammenhang mit der Schwangerschaft, ihrer Beendigung oder Betreuung stehen (ausgeschlossen sind zufällige oder unbeabsichtigte Ursachen, z. B. ein Autounfall). In Deutschland aber unterscheiden sich bereits die Todesbescheinigungen je nach Bundesland. Die Autoren der Berliner Studie fanden zudem unvollständig oder fehlerhaft ausgefüllte Bescheinigungen. Im Ergebnis seien mütterliche Todesfälle in der offiziellen Statistik teilweise nicht berücksichtigt worden.

Weitere Forschungsergebnisse legen nahe, dass zahlreiche mütterliche Todesfälle vermeidbar wären, wenn rechtzeitig entsprechende medizinische Maßnahmen ergriffen werden könnten. Doch dafür müssten Risiken erst sichtbar werden.

Vom Einwohnermeldeamt bis zum IQTIG

In Deutschland erheben zwar unterschiedliche Stellen Daten über Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. Diese Datenerhebung ist jedoch nicht einheitlich, sie ist lückenhaft und für die Forschung nicht oder nur schwer zugänglich. Eine einheitliche Auswertung über alle Versorgungsbereiche hinweg – von der Hebamme, den niedergelassenen Ärzten, der Klinik, dem Geburtshaus, der häuslichen Geburt bis hin zu den Kinderärztinnen und Kinderärzten – ist im Grunde nicht möglich. Einige wenige Daten zur Geburt erfassen die Einwohnermeldeämter. Auch Krankenkassen verfügen über Daten zu Geburten. Umfangreichere geburtshilfliche Daten im Krankenhaus (z. B. Gewicht des Neugeborenen, Komplikationen während der Geburt) sammelt das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG), Daten zu Geburten im häuslichen Umfeld oder im Geburtshaus die Gesellschaft für Qualität in der außerklinischen Geburtshilfe (QUAG e. V.). Beide Datensätze enthalten ähnliche Parameter, sind aber nicht komplett gleich. Andere Gesundheitsdaten, z. B. zur Schwangerenvorsorge oder zur Betreuung im Wochenbett, werden bislang gar nicht systematisch erfasst.

Regionale Initiativen und Erfahrungen im Ausland

Mit einer Verbesserung der Datenerhebung und -nutzung beschäftigen sich auch regionale Projekte und Initiativen, wie z. B. das 2024 gegründete Berliner Register für mütterliche und fetale Sterbefälle (GeMoRe), das alle mütterlichen und fetalen Todesfälle in Berlin erfassen möchte. Die Daten sollen jedes Jahr ausgewertet und veröffentlicht werden, um Ursachen erkennen und präventive Maßnahmen erarbeiten und durchführen zu können.

Andere Länder wie die skandinavischen Länder haben umfangreiche und positive Erfahrungen mit einem landesweiten Geburtenregister gemacht. Die systematische Datenerfassung hat dort dazu beigetragen, die Zahl der um die Geburt verstorbenen Kinder von 5,4 bis 7 von 1000 im Jahr 2000 auf 3,2 bis 5,3 von 1000 im Jahr 2021 zu senken. Die Schlussfolgerungen aus diesen Registeruntersuchungen lassen sich aufgrund unterschiedlicher Lebensbedingungen und Gesundheitssysteme zwar nicht direkt auf Deutschland übertragen, doch es wird deutlich: Nur da, wo Probleme erkannt werden können, ist es möglich, Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

Fachleute sind überzeugt

Kein Wunder also, dass auch hierzulande Fachgesellschaften und Fachleute aus verschiedenen Bereichen der Gesundheitsversorgung die Einführung eines bundesweiten Geburtenregisters fordern, das Daten zu Schwangerschaft, Geburt und zum ersten Lebensjahr des Kindes bündelt.

Wir brauchen ein zentrales Register, um aus Einzelschicksalen Erkenntnisse zu gewinnen, Leben zu retten und im internationalen Vergleich endlich vergleichbar zu sein.

»Jeder mütterliche Todesfall ist einer zu viel – und jeder unregistrierte ein blinder Fleck in unserem Gesundheitssystem. Wir brauchen ein zentrales Register, um aus Einzelschicksalen Erkenntnisse zu gewinnen, Leben zu retten und im internationalen Vergleich endlich vergleichbar zu sein«, so Prof. Dr. med. Michael Abou-Dakn, Leiter der Arbeitsgemeinschaft für Geburtshilfe und Pränatalmedizin der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG).

Dringenden Handlungsbedarf sieht auch Prof. Dr. Ekkehard Schleußner, ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin (DGPM) und Leiter der Klinik für Geburtsmedizin am Universitätsklinikum Jena. Anlässlich eines Fachgesprächs mit Vertretern aus Wissenschaft, Versorgung und Selbsthilfe im Juni resümierte er: »Es ist dringend notwendig, dass wir für die Politik und die Gremien, die für die Gesundheitsversorgung Verantwortung tragen, wirklich belastbare Daten zur Verfügung stellen können. Das ist derzeit nicht oder nur eingeschränkt der Fall.«

Wıe soll es weitergehen?

Expertinnen und Experten einer Arbeitsgruppe zum Nationalen Gesundheitsziel ›Gesundheit rund um die Geburt‹ schlagen ein schrittweises Vorgehen vor. Dabei sollten zunächst bestehende Daten aus den verschiedenen Datenquellen (u. a. IQTIG, QUAG, Krankenversicherungen, Einwohnermeldeämter) anonymisiert gebündelt werden. In einem nächsten Schritt könnten fehlende Informationen ergänzt und weitere Datenquellen erschlossen werden, z. B. aus der elektronischen Patientenakte inklusive elektronischem Mutterpass und elektronischem Kinderuntersuchungsheft. Auch sollten Patientenbefragungen Berücksichtigung finden. Das so entstehende neue Register könnte zudem an bereits bestehende Strukturen (z. B. ans IQTIG oder an das neu errichtete Forschungsdatenzentrum beim BfArM) angeschlossen werden, um Doppelstrukturen zu vermeiden und Synergien zu nutzen.

Als Ergebnis könnten Präventionsprogramme für Frauen, aber auch Schulungsprogramme für Fachpersonal erarbeitet werden.

Ein nationales Geburtenregister würde nicht nur Statistiken verbessern. Zuverlässigere Registerdaten zu haben, hieße z. B. auch, die häufigsten Gründe für Müttersterblichkeit identifizieren zu können. Als Ergebnis könnten Präventionsprogramme für Frauen, aber auch Schulungsprogramme für Fachpersonal erarbeitet werden. Das würde die Patientensicherheit erhöhen, die Gesundheit von Müttern und Kindern nachhaltig schützen und die Arbeit von Ärztinnen, Ärzten, Hebammen und Pflegekräften erleichtern und effektiver machen.

»Ich verspreche mir, dass mit diesem Geburtenregister Geburten so erfasst werden, dass wir sehen können, was läuft gut, aber was läuft eben auch nicht gut und was können wir verbessern.« Um diesem Anspruch von Katharina Desery von der Elternorganisation Mother Hood e.V. gerecht zu werden, braucht es schnell konkrete nächste Schritte. Die Arbeitsgruppe empfiehlt, eine Expertengruppe einzurichten, die den Aufbau eines Nationalen Geburtenregisters vorantreibt und konsequent begleitet – die Reaktion der Politik bleibt abzuwarten.

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