Die fliegende Augenklinik

Von Martin Dutschek Lesezeit 4 Minuten
Blau gefärbte Iris mit Pupille

Die Hilfsorganisation Orbis schult medizinisches Personal und behandelt Kranke mit Augenleiden in Entwicklungsländern. Seit ihrer Gründung im Jahr 1982 setzt Orbis auf Flugzeuge, die zur fliegenden Augenklinik umgerüstet werden.

Für Millionen von Menschen ist die Dunkelheit Realität. Blindheit nimmt einem so viel mehr als nur das Sehvermögen. Sie nimmt einem die Fähigkeit, eine Ausbildung zu erhalten. Sie kann daran hindern, eine Arbeit zu finden. Sie kann ganze Familien zu einem Leben in Armut führen.

1,1 Milliarden Menschen mit Sehbeeinträchtigungen gibt es weltweit. Davon sind 43 Millionen blind und 295 Millionen Menschen stark sehbehindert. Bei mindestens 1 Milliarde Menschen hätte die Sehbeeinträchtigung verhindert werden können oder könnte behandelt werden.

Jeder Mensch, ob arm oder reich und egal, wo er zu Hause ist, soll Zugang zu hochwertiger medizinischer Versorgung haben.

Genau das ist die Mission der Hilfsorganisation Orbis. Jeder Mensch, ob arm oder reich und egal, wo er zu Hause ist, soll Zugang zu hochwertiger medizinischer Versorgung haben. Für dieses Ziel ist eine ›McDonnell Douglas DC-10‹ unterwegs – ob in Südostasien oder Indien, Lateinamerika oder Afrika.

Hörsaal statt First Class

Der dreistrahlige Flieger wurde vom Unternehmen Fedex gespendet und ist seit 2016 im Einsatz. Fedex unterstützt das Projekt auch mit Pilotinnen und Piloten und übernimmt die Wartung der Maschine. Der mitfliegenden Orbis-Crew steht im Flugzeug eine vollwertige, hochmodern bestückte Spezialklinik zur Verfügung – inklusive Laser-Diagnosegeräten, Operationssaal und Aufwachraum. Vor allem aber ist das Orbis Flying Eye Hospital ein ›fliegendes Klassenzimmer‹:

Wo früher die First Class war, befinden sich heute ein ›Hörsaal‹ für 46 Personen und Labor-Arbeitsplätze. Denn die Aus- und Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten in den angeflogenen Regionen steht immer im Vordergrund, sollen sie doch ihr Wissen gewinnbringend vor Ort einsetzen können. Im mittleren Teil des Rumpfes befinden sich OP und Aufwachraum. In einem weiteren Raum daneben werden Instrumente sterilisiert, und das Personal kann sich hier vor dem Eingriff die Hände waschen und desinfizieren. Am Heck gibt es noch eine kleine Krankenstation mit drei Betten, die für die Vor- und die Nachuntersuchung genutzt wird. Generatoren, Wassertanks mit entsprechenden Reinigungssystemen und Sauerstoffkonzentratoren machen die fliegende Klinik autark. Temperatur, Luftstrom und Luftfeuchtigkeit entsprechen dem Standard von Krankenhäusern.

Empfang mit Wasserdusche

Immer wieder kommt es vor, dass der Flieger bei der Landung in der Ferne von der örtlichen Flughafenfeuerwehr mit einer Wasserdusche begrüßt wird. Dies ist ein traditioneller Gruß für ein bedeutendes Ereignis in der Welt der Luftfahrt. Die Zeremonie, bei der gleich mehrere Löschfahrzeuge das Flugzeug mit Wasser besprühen, wird zum Beispiel beim letzten Flug eines Kapitäns vor seiner Pensionierung durchgeführt oder wenn ein neuer Flugzeugtyp zum ersten Mal einen Zielflughafen erreicht. »Orbis ist einzigartig, weil sie mit lokalen Partnern zusammenarbeiten und so Vertrauen und Kompetenz aufbauen. Ziel ist es auch, die Fähigkeiten der lokalen Augenpflegeteams zu verbessern und sie in der Lage zu versetzen, sich um ihre eigenen Patienten kümmern zu können«, sagt Roberto Pineda, Professor für Augenheilkunde an der Harvard Medical School in Boston, Massachusetts, und ehrenamtlicher Dozent bei Orbis.

Im weltweiten Austausch

Die Orbis-Programme umfassen die Schulung gesamter Behandlungsteams in Bereichen wie Kinderaugenheilkunde, Katarakt, Glaukom, Netzhaut, Okuloplastik (Wiederherstellung und Modellierung des natürlichen Aussehens rund um das Auge) und diabetische Retinopathie. »Um die Zusammenarbeit zwischen Augenärztinnen und Augenärzten auf der ganzen Welt zu fördern, haben wir ›Cybersight‹ entwickelt. Diese Telemedizin-Plattform bietet Augenärzten die Möglichkeit, mit erfahrenen Mentoren in anderen Teilen der Welt in Kontakt zu treten, um die eigene Kompetenz durch Schulungen und Anleitungen zu erweitern«, erklärt Professor Pineda. Aber auch die Schulungen im ›fliegenden Klassenzimmer‹ zeigen ihre Wirkung. Bei ihrem mehrwöchigen Aufenthalt der DC-10 im vergangenen Jahr in der Mongolei trainierten über siebzig Augenärzte ihre chirurgischen Fähigkeiten sowohl an künstlichen Augen als auch an speziellen Virtual-Reality-Geräten.

Im Flugzeug werden die Patientinnen und Patienten von ehrenamtlich tätigen Ärztinnen und Ärzten und entsprechendem Assistenzpersonal versorgt. Die Teams sind international zusammengestellt. Einer Behandlung im fliegenden OP geht immer eine Voruntersuchung mit ärztlicher Diagnostik in örtlichen Einrichtungen zuvor. Da diese in der Regel oft nur über eingeschränktes Equipment und Know-how verfügen, schließen die Teams vor Orbis diese Lücken.

Marlas Geschichte

Als das Flying Eye Hospital wieder einmal in der Mongolei Station machte, dachte Marlas Großmutter darüber nach, wie sehr sich die Augenpflege in ihrem Land in den vergangenen Jahren verbessert hat. Die Orbis-Initiativen und der damit verbundene Fortschritt haben ihrer Enkelin eine bessere Zukunft geschenkt.

Als Marla vor sechs Jahren geboren wurde, befürchtete ihre Familie, dass die Zukunft der Kleinen nicht rosig aussehen würde. Denn Marlas Eltern und ihre Großmutter hatten alle mit dem sogenannten ›Grauen Star‹ zu kämpfen – eine Linsentrübung, die zur Erblindung führen kann, wenn sie nicht frühzeitig behandelt wird. Also tat Marlas Familie alles, was sie tun konnte, um eine Diagnose zu bekommen und das Kind bestmöglich zu versorgen. Im Alter von nur 19 Tagen wurde sie in ein von Orbis unterstütztes Krankenhaus in Ulaanbatar gebracht, wo Dr. Shamsiya Murat, ein von Orbis ausgebildeter Arzt, die Befürchtungen der Eltern bestätigte: Das Sehvermögen ihrer Tochter war in Gefahr.

Knapp drei Wochen später hat Dr. Murat Marla zum ersten Mal operiert. Sie war das jüngste Kind in der Mongolei, bei dem ein solcher Eingriff gemacht wurde. Nur wenige Wochen später bemerkte Marlas Mutter, dass ihr Baby zu ihr aufschaute – sie sah sie endlich zum ersten Mal. »Es war ein Moment voller Freude, zu wissen, dass Marlas Welt gerade ›klar‹ geworden war«, erinnert sie sich. Als ihre Tochter fünf Jahre alt war und damit das Mindestalter für die Folge-Operation erreicht hatte, wurden ihr während einer weiteren OP zwei neue künstliche Linsen eingesetzt. Marla kann nun eine leichtere Brille mit einer geringeren Sehstärke tragen. Heute ist sie sechs Jahre alt und freut sich darauf, in die Schule zu kommen. »Sie ist neugierig und kreativ, liebt das Zeichnen und träumt davon, Designerin oder Schneiderin zu werden. Mit ihrer klaren Sicht ist sie bereit, eine Welt voller Möglichkeiten zu erkunden«, sagt Marlas Mutter erleichtert.


Auf einen Blick

ORBIS International ist eine internationale Nichtregierungsorganisation, die sich der Behandlung und Prävention von Blindheit, Sehbehinderungen und Augenkrankheiten in Entwicklungsländern in Südostasien, Indien, Lateinamerika oder in Afrika widmet. Die Organisation hat ihren Sitz in New York und unterhält Büros in Houston, Ottawa, London, Hongkong und Taipeh. Sie betreibt ein Flugzeug, das als fliegende Augenklinik in Entwicklungsländern dient. ORBIS wurde 1982 mit Hilfe von Geldern der U.S. Agency for International Development sowie privaten Spendengeldern gegründet. Die erste fliegende Augenklinik war eine Douglas DC-8, gespendet von United Airlines. Mit Hilfe privater Spendengelder wurde im Jahr 1992 eine McDonnell Douglas DC-10 angeschafft.

Weitere Infos unter orbis.org

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