Zu früh für den Wechsel? Die Diskussion um Pubertätsblocker

Von Christina Sartori Lesezeit 4 Minuten
Symbolbild: Labyrinth, aus einer Ecke steigen bunte Luftballons auf.

Jugendliche, die sich bereits früh für eine Geschlechtsumwandlung entscheiden möchten, erhalten Pubertätsblocker: Studien zeigen aber gravierende Folgen, so dass sie in vielen Ländern nicht empfohlen werden. Wie ist die Lage in Deutschland?

Es ist ein Thema, bei dem schnell die Emotionen hochkochen: Pubertätsblocker. Medikamente, die Jugendlichen gespritzt werden, um die Pubertät anzuhalten: Dadurch wachsen biologischen Mädchen keine Brüste und sie haben keine Menstruation. Bei biologischen Jungen wächst kein Bart und die Stimme wird nicht tiefer. Das alles geschieht, weil Pubertätsblocker die Ausschüttung bestimmter Hormone aus der Hirnanhangsdrüse blockieren, wodurch letztendlich der Körper weniger Sexualhormone produziert. Bisher können Pubertätsblocker verordnet werden, wenn vorher eine umfassende psychologische Untersuchung festgestellt hat: Das Kind leidet unter seinem biologischen Geschlecht.

Der Zeitpunkt entscheidet

Wichtig sei, die Pubertät nicht schon vor ihrem Beginn zu blockieren, sagt Dr. Achim Wüsthoff, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin sowie für Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie am Endokrinologikum Hamburg. »Wir wissen, die ersten Pubertätsstadien müssen erfolgt sein, der Körper muss schon ein bisschen die Sexualhormone spüren. Das ist eine wichtige Erfahrung für diese Jugendlichen, gerade in der Auseinandersetzung mit der beginnenden Vermännlichung oder Verweiblichung«, erläutert Wüsthoff. »Denn wir haben tatsächlich Fälle erlebt, wo durch diese Sexualhormone vielleicht die Geschlechtsidentität noch einmal ins Wanken gekommen ist und eine Versöhnung mit dem Körper stattgefunden hat.« Zu spät sollten Pubertätsblocker aber nicht gegeben werden, denn ist die Pubertät schon fortgeschritten, können die Medikamente die Entwicklung kaum noch rückgängig machen. »Der Beginn der Pubertätsblockade ist aus meiner Sicht sinnvoll, wenn noch keine irreversiblen körperlichen Veränderungen stattgefunden haben«, stellt Wüsthoff fest, der an der ›Leitlinie zu Geschlechtsinkongruenz und -dysphorie im Kindes- und Jugendalter‹ mitgearbeitet hat.

Neue Leitlinie

Derzeit werden die letzten Änderungen in die neue Leitlinie eingearbeitet, die Vertreter von 27 medizinischen Fachgesellschaften und zwei Vertretungsorganisationen von Behandlungssuchenden zusammen erstellt haben. Danach soll sie Medizinern und Therapeuten in Deutschland, Österreich und der Schweiz Orientierung bieten, wie sie am besten Kinder und Jugendliche behandeln, die sich mit ihrem biologischen Geschlecht nicht wohlfühlen oder sogar stark darunter leiden.

In Bezug auf den Einsatz von Pubertätsblockern und geschlechtsangleichende Hormonbehandlungen sind die Empfehlungen weniger streng als in mehreren anderen europäischen Ländern. Dort wurde der Zugang zu Pubertätsblockern gegenüber früher erschwert. Nun werden in Schweden, England und Dänemark Pubertätsblocker nur noch im Rahmen von Studien verordnet oder die Anwendung wird anderweitig limitiert und in Norwegen, Frankreich und den Niederlanden werden die Leitlinien überarbeitet. Der Grund: Die Datenlage zu Vorteilen, aber auch zu möglichen Nebenwirkungen ist schlecht. Das stellten im Jahr 2020 Experten vom britischen National Institute for Health and Care Excellence (NICE) fest, als sie Studien zum Thema Pubertätsblocker analysierten. Sie fanden lediglich neun Studien – alle von eher schlechter Qualität, nämlich mit wenig Teilnehmenden und ohne Kontrollgruppe.

So gibt es nur sehr schwache Belege für die These, dass Pubertätsblocker mehr nützen als schaden. Kritische Stimmen befürchten, dass Pubertätsblocker den Weg bahnen für eine anschließend folgende Geschlechtsumwandlung, die die Patientinnen und Patienten dann später bereuen, wie es in einzelnen Fallberichten beschrieben wird. Auch Studien legen nahe, dass die Entscheidung für Pubertätsblocker früh die Weichen stellt für eine spätere Geschlechtsumwandlung: Praktisch alle Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer, die Pubertätsblocker erhielten, wechselten später auch ihr Geschlecht. »Das ist ein wichtiger Aspekt«, sagt Dr. Dagmar Pauli, stellvertretende Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Sie hat ebenfalls an der Leitlinie mitgearbeitet: »Wir haben das sogar aufgenommen, dass man Eltern und Betroffene informieren muss über diesen Punkt. Das steht in der Leitlinie drin.« Ebenso empfehle die Leitlinie, die Möglichkeit zur Detransition offen zu halten, der Rückkehr zum biologischen Geschlecht. »Die Pubertätsblockade ist ja prinzipiell umkehrbar für die, die es dann absetzen möchten. Ich sehe es immer wieder, aber es ist nicht die Mehrheit, sondern eine kleinere Minderheit«, betont Pauli.

Auch Sabine Maur, Vize-Präsidentin der Bundespsychotherapeutenkammer und Mitautorin der Leitlinie, findet es nicht überraschend, dass in Studien 90% oder mehr Teilnehmende nach Einnahme von Pubertätsblockern später ihr Geschlecht ändern ließen: »In der Gruppe der Transmenschen ist es eine ganz, ganz kleine Untergruppe, wo wir überhaupt mit Pubertätsblockern behandeln. Das sind die, die diese Geschlechtsinkongruenz schon früh geäußert haben, und zwar absolut konstant über mehrere Jahre und auch intensiv, wo teilweise schon eine soziale Transition im Grundschulalter erfolgt ist.« Daher sei es die logische Konsequenz, dass aus dieser Gruppe die überwiegende Mehrzahl sich später auch für geschlechtsangleichende Maßnahmen entscheide. Außerdem stellt Maur klar: »Vor jeder neuen geschlechtsangleichenden Maßnahme muss eine neue Indikationsstellung erfordern. Das ist nicht ein Automatismus, der da abläuft.«

Fehlende Langzeitstudien

Trotzdem wird teilweise kritisiert, dass zu viele junge Menschen erst Pubertätsblocker und anschließend geschlechtsangleichende Hormone ihres Wunschgeschlechts erhalten, obwohl derzeit nicht klar ist, welche gesundheitlichen Folgen dies hat. Bisher gibt es deutliche Hinweise auf ein erhöhtes Risiko für eine geringere Knochenstärke, und einige Ärztinnen und Ärzte warnen vor Unfruchtbarkeit, doch es fehlen Langzeitstudien, die es ermöglichen, die Risiken korrekt abzuschätzen. Bis die Datenlage besser ist, fordern manche, sollten Pubertätsblocker nur sehr restriktiv verschrieben werden, zum Beispiel nur im Rahmen von klinischen Studien – oder gar nicht. Dagegen erinnert Prof. Claudia Wiesemann, Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der Universitätsmedizin Göttingen, die ebenfalls an der Leitlinie mitgearbeitet hat, dass es sich hier um Menschen in einer Krisensituation handele, denen Pubertätsblocker Zeit verschaffen: »Es geht darum, einem Menschen in einer Krise einen Denkraum und auch einen Entwicklungsraum zu schaffen.« In der Leitlinie wird empfohlen, dass Betroffene und Eltern über die möglichen Nebenwirkungen aufgeklärt werden. Außerdem ist eine umfassende diagnostische Einschätzung notwendig, bevor Maßnahmen ergriffen werden.

Ob das ausreicht, ist umstritten und es bleibt ein grundlegender Konflikt: einerseits der große Leidensdruck, den Menschen empfinden, wenn sie sich mit ihrem biologischen Geschlecht nicht identifizieren, andererseits die Befürchtung, zu früh in den gesunden Körper eines jungen Menschen einzugreifen – mit unbekannten Langzeitfolgen. Und das in der Pubertät: eine Entwicklungsstufe, die viele Erwachsene mit Zweifel, Unsicherheit und Ängsten verbinden, weil der eigene Körper sich verändert. Die Frage ist: Wie viel Zweifel und Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper sind Teil der Entwicklung – und wie viel ist zu viel?

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