Die neue Empfindsamkeit: Was ist Hochsensibilität?

Von Diana Arnold Lesezeit 4 Minuten
Vier rosafarbene Mimosenblüten

Menschen reagieren unterschiedlich sensibel auf Reize. Vermutlich jeder Fünfte reagiert besonders empfindsam und ist demnach hochsensibel. Doch was steckt hinter dem Begriff? Und was bedeutet diese Einordung für Betroffene?

»Bist du vielleicht hochsensibel?« Als Sara die Frage von ihrem besten Freund gestellt bekommt, hat sie sich gerade darüber beklagt, dass das aufdringliche Parfum ihrer Kollegin ihr Kopfschmerzen und sogar Übelkeit bereite. Nun fühlt sie sich gekränkt: »Denkt er, ich übertreibe? Hält er mich für eine Mimose?« Zugleich hat sie sich schon oft unverstanden gefühlt. Doch ihr Freund erzählt ihr von der Psychologin Elaine Aron, die 1996 das Konzept der ›Sensory Processing Sensitivity‹, also sensorische Verarbeitungssensitivität, entwickelt hat. Im Deutschen hat sich dafür inzwischen der vereinfachte Begriff ›Hochsensibilität‹ durchgesetzt. Demnach sind etwa 15 bis 20% der Menschen hochsensibel, das heißt, sie reagieren deutlich stärker auf äußere und innere Reize und verarbeiten diese vermutlich neurologisch komplexer. Betroffene sind schneller überreizt und ziehen sich in der Folge oft zurück.

Aron entwickelte die ›Highly Sensitive Person Scale‹ (HSPS), einen Aussagenkatalog mit 27 Selbstzuschreibungen wie ›Ich fühle mich leicht überwältigt durch starke Sinneseindrücke‹. Wenn eine Person mehr als 14 Aussagen zustimmt, ist sie vermutlich hochsensibel. Den Aussagen ist zu entnehmen, dass durch die starken ungefilterten Sinneseindrücke einerseits ein gewisser Leidensdruck entstehen kann, andererseits aber auch positive Eindrücke besonders intensiv empfunden werden können. Zudem herrscht weitgehend Einigkeit darin, dass es sich nicht um ein Krankheitsbild handelt, das diagnostiziert und therapiert werden könne, sondern um ein unveränderliches Persönlichkeitsmerkmal.

Zögerliche Forschung

Die deutsche Forschung nahm das Konzept anfangs nur zögerlich auf. In Standardübersichten zur Persönlichkeitspsychologie wie der des Psychologen Prof. Dr. Jens Asendorpf taucht Hochsensibilität bis heute nicht auf. Doch zwanzig Jahre nach Arons Vorstoß entwickelten die Psychologen Dr. Sandra Konrad und Prof. Dr. Philipp Yorck Herzberg von der Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg das Messinstrument weiter, indem sie die Selbstzuschreibungen umstrukturierten und drei Faktoren ausarbeiteten:

  • Die niedrige sensorische Reizschwelle beschreibt die schnellere Wahrnehmung externer Reize, die als unangenehm empfunden werden, zum Beispiel starke Gerüche oder Geräusche.
  • Die leichte Erregbarkeit bezieht sich dagegen auf die Verarbeitung äußerer und innerer Reize. Eine entsprechende Selbstauskunft wäre: ›Es verärgert mich, wenn ich zu viele Dinge in kurzer Zeit erledigen soll‹.
  • Der dritte Faktor ist die ästhetische Sensitivität, der Aussagen zugeordnet werden wie: ›Ich bemerke und genieße feine Düfte, Geschmäcker, Klänge oder Kunstwerke‹. Oder: ›Wenn sich Menschen in einer Umgebung unwohl fühlen, versuche ich die Umgebung angenehmer zu gestalten‹. Diesem Aspekt schreiben die Psychologen das Potenzial zu, Hochsensibilität auch als Ressource zu verstehen statt sie nur als belastend zu empfinden. Und gerade dieser Aspekt wird in der Populärwissenschaft dann auch gern als ›Superpower‹ vermarktet.

Hochsensibilität als Markt

Auch Sara hat dieses Potenzial für sich entdeckt. »Als Superpower würde ich es nicht beschreiben. Aber sicher bin ich in meinem Beruf als Grafikdesignerin auch erfolgreich, weil ich gezielt meinen ausgeprägten Sinn fürs Ästhetische dabei einsetze.« Sowohl Aron als auch Herzberg vertreten die Auffassung, dass Hochsensible häufiger künstlerische Berufe ergreifen. Da bleibt die Schlagzeile nicht aus, Richard Wagner oder Marylin Monroe seien hochsensibel gewesen.

Während die Wissenschaft noch an einem systematischen Verständnis von Hochsensibilität arbeitet, hat der Markt die Hochsensibilität als Erfolgsprodukt entdeckt: Coaching für Eltern hochsensibler Kinder, Seminare wie »Hochsensibilität als Superpower flexibel im Beruf & Business nutzen«, Ratgeber zur Ernährung für Hochsensible und Online-Dating für Hochsensible. Auf entsprechenden Buchcovern und Webseiten finden sich sanfte Farben, geschwungene Handschriften und Naturfotografien. Die Fülle an Angeboten scheint einen besonderen Bedarf zu spiegeln.

Psychotherapie und Coaching

Herzberg ist die Unterscheidung von Trend und Fakten wichtig: »Auf der einen Seite haben wir das Modekonstrukt mit viel Unwissen, aber starker Medienpräsenz. Auf der anderen Seite arbeitet die Forschung noch an den Basics.« Doch für viele Menschen sei es ein wichtiges Erklärungsmodell dafür, dass die Gegenwart sie überfordere. Das Konzept Hochsensibilität gebe ihnen dann Halt – ohne das Stigma einer psychischen Erkrankung.

Dennoch stellten Herzberg und Konrad auch eine Korrelation von Hochsensibilität mit verschiedenen Symptomen psychischer Erkrankungen fest. Insbesondere Menschen, deren Hochsensibilität im Bereich der leichten Erregbarkeit stärker ausgeprägt ist, weisen häufiger Symptome psychischer Erkrankungen auf als Menschen, die nach dem weiterentwickelten Messinstrument nicht als hochsensibel gelten. Demnach hätten hochsensible Männer ein zwölffach und hochsensible Frauen ein achtfach erhöhtes Risiko, psychisch zu erkranken. Warum dies so ist, konnte die Studie noch nicht klären: Verstärkt eine psychische Erkrankung die individuelle Sensibilität? Oder belastet es hochsensible Menschen, dass ihre Feinfühligkeit oft negativ bewertet wird, beispielsweise mit Kommentaren wie: »Stell dich nicht so an! So schlimm ist das doch gar nicht …« Viele Menschen, die sich selbst als hochsensibel beschreiben, erklären daher auch übereinstimmend, dass sie sich oft fremdartig und unverstanden fühlen.

Vanessa Jilg bietet in Mainz psychotherapeutische Unterstützung für Menschen mit traumatischen Erfahrungen, aber auch für hochsensible Menschen an. »Sämtliche traumatherapeutischen Verfahren, die auf eine verbesserte Regulierungsfähigkeit des Nervensystems abzielen, funktionieren hervorragend für Menschen, die hochsensibel sind. Wir sprechen ja in beiden Fällen von einem überreizten System.« Dennoch sei es wichtig, so Jilg, schwere psychische Erkrankungen von einer Überlastung durch Hochsensibilität zu differenzieren und eine fundierte Behandlung sicherzustellen: »Eine Gefahr sehe ich darin, wenn etwas übersehen wird und sich dadurch Störungsbilder manifestieren oder sogar verstärken anstatt adäquat behandelt zu werden.«

Besonders normal

Viele Hochsensible suchen aufgrund von Überlastung oder einem geringeren Selbstwertgefühl Hilfe und werden im Internet auffallend schnell fündig: Neben Selbsthilfegruppen und Ratgeberliteratur finden sich vor allem zahlreiche Coaches, die auf Hochsensibilität spezialisiert sind. Genauso gut kann man auch gleich selbst eine ›Premium-Ausbildung‹ zum Coach in sechs Wochen online absolvieren: Das Zertifikat, das es dafür gibt, wird allerdings von keiner unabhängigen Stelle anerkannt, zumal auch der Begriff ›Coach‹ nicht geschützt ist. Sara steht diesen Angeboten skeptisch gegenüber, doch auch sie hat bereits Hilfe bei einer Psychotherapeutin gesucht und gefunden: »Für mich war das Label im ersten Moment sehr hilfreich, um zu verstehen, dass Menschen einfach unterschiedlich sensibel sind – die einen mehr, die anderen weniger. Aber viel wichtiger war eigentlich zu erkennen, dass ich für meine Bedürfnisse einstehen darf und muss.« Sara braucht einen gut strukturierten Tag, der nicht überladen ist. Sie wohnt auf dem Land, genießt die Natur und meditiert regelmäßig: »Meine Hochsensibilität bedeutet nicht, dass ich im Schneckenhaus sitze und das Leben an mir vorbeiziehen lasse. Aber ich passe eben gut auf mich auf. Und das kann wohl niemandem schaden.«

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