Die Pflegebegutachtung von morgen

Von Andrea Kimmel Lesezeit 4 Minuten
Ein älterer Mann zieht sich seine Schuhe an. Im Hintergrund unterhalten sich zwei jüngere Personen miteinander.

Wie können wir die Pflegebegutachtung zukunftsfest aufstellen? Welche Chancen bietet die Begutachtung mit Blick auf eine gute Unterstützung der pflegerischen Versorgung? Diese Fragen untersucht der Medizinische Dienst mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in verschiedenen Modellprojekten.

Die Einführung des umfassenden Pflegebedürftigkeitsbegriff und des dazugehörigen Begutachtungsinstruments vor knapp zehn Jahren war ein sozialpolitischer Meilenstein. Seither gelangen die individuellen Unterstützungsbedarfe, die Ressourcen und Fähigkeiten des pflegebedürftigen Menschen in seiner Gesamtheit in den Blick – unabhängig von den zugrundeliegenden Gesundheitsproblemen. Diese personenzentrierte Sichtweise erlaubt den Gutachterinnen und Gutachtern des Medizinischen Dienstes nicht nur zu prüfen, ob die Anspruchsvoraussetzungen für Leistungen der sozialen Pflegeversicherung erfüllt sind. Möglich wird auch eine differenzierte Einschätzung, ob und in welchem Umfang Maßnahmen helfen können, die Selbstständigkeit des Menschen zu erhalten und zu fördern – etwa durch Hilfsmittel, Heilmittel, Reha- und oder Präventionsmaßnahmen. Dieser Aspekt der Begutachtung hat in den vergangenen Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen und wurde durch verschiedene Gesetzesreformen weiter gestärkt.

Standardisierte Verfahren stoßen an ihre Grenzen

Die Pflegebegutachtung umfasst heute weit mehr als die Prüfung eines Leistungsanspruchs: Sie fokussiert auch rehabilitative und präventive Bedarfe und schließt individuelle Empfehlungen für die weitere Versorgungsplanung durch andere Akteure ein. Zudem prüfen die Gutachterinnen und Gutachter des Medizinischen Dienstes, ob die jeweilige Pflegesituation womöglich schwierig ist oder Risiken birgt. Ein Blick darauf kann vor allem dann wichtig sein, wenn die Pflege allein von An- und Zugehörigen organisiert wird und keine professionellen Pflegekräfte in die Versorgung eingebunden sind. In solchen Fällen sind die Gutachtenden häufig auch die ersten professionellen Ansprechpersonen, wenn Fragen rund um die Organisation der Pflege und die Bewältigung schwieriger Situation auftreten.

Eine Standardbegutachtung erscheint angesichts der demografischen Herausforderungen weder effizient noch notwendig.

Die Anforderungen an die Pflegebegutachtung als ein Ausgangspunkt für die weitere individuelle Versorgung und Versorgungsplanung sind in den vergangenen Jahren insgesamt gestiegen. Dennoch arbeiten die Gutachterinnen und Gutachter mit einem standardisierten Begutachtungsverfahren, das in allen Antragskonstellationen und Versorgungssettings pauschal zur Anwendung kommt. Gleichzeitig steigt die Anzahl der Begutachtungsaufträge weiter an, mit der Folge, dass das Begutachtungsverfahren zunehmend an seine Belastungsgrenzen stößt.

Während die Anzahl der Pflegebedürftigen weiter zunimmt – insbesondere derer mit kognitiven oder psychischen Einschränkungen – und der Fachkräftemangel auf dem Arbeitsmarkt auch die Personalsituation bei den Medizinischen Diensten beeinflusst, sollte das Begutachtungsverfahren noch einmal grundlegend neu ausgerichtet werden. Denn eine Standardbegutachtung erscheint angesichts der demografischen Herausforderungen weder effizient noch notwendig.

Digitalisierung nutzen

Die Medizinischen Dienste arbeiten daher seit einigen Jahren u. a. daran, digitale Formate wie etwa die Videobegutachtung in die Begutachtungspraxis zu integrieren: Um hierfür eine fundierte Handlungsgrundlage zu schaffen, führt der Medizinische Dienst Bund derzeit gemeinsam mit der Universität Bremen und elf Medizinischen Diensten ein groß angelegtes Modellprojekt zur Eignung der Videobegutachtung durch (siehe auch Beitrag: Digitale Perspektiven für die Pflege). Das Projekt wird vom GKV-Spitzenverband im Modellprogramm zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung finanziell gefördert. Die Projektergebnisse sollen dazu beitragen, die Pflegebegutachtung fit für die Zukunft zu machen. Digitale und technische Lösungen sind hierfür ein wichtiges Werkzeug.

Die Praxis zeigt, dass nicht jede Pflege- bzw. Antragssituation denselben Aufwand in der Begutachtung erfordert.

Um die Begutachtung wirklich zu verbessern, braucht es zudem eine grundlegende Neukonzeption des Begutachtungsverfahrens: Die Praxis zeigt, dass nicht jede Pflege- bzw. Antragssituation denselben Aufwand in der Begutachtung erfordert. Manche Konstellationen bedürfen einer besonderen Aufmerksamkeit, während in anderen ein schlankeres Vorgehen ausreichen kann. Sind professionelle Pflegepersonen aus Pflegediensten oder stationären Pflegeeinrichtungen in die Versorgung eingebunden, könnte deren Wissen um die Situation und die spezifischen Bedarfe der pflegebedürftigen Person sowie die vorhandenen Daten noch stärker als bislang für die Pflegebegutachtung genutzt werden. Das könnte Ressourcen schaffen, um insbesondere bei der Begutachtung von Menschen, die ihre Pflege ohne Unterstützung von professionellen Pflegekräften organisieren, spezifische Unterstützungsbedarfe zu erkennen und wenn notwendig auch auf akute Beratungs- bzw. Informationsbedarfe eingehen zu können.

Modellprojekte als Wegbereiter

Eine solche ›setting-orientierte‹ Pflegebegutachtung, die sich an den Erfordernissen der jeweiligen Versorgungssituation orientiert, lässt sich jedoch nicht einfach so umsetzen und wirft grundlegende, auch strukturelle Fragen auf, die es zu beantworten gilt: Wie lässt sich die Unabhängigkeit von Entscheidungen sichern, wenn Pflegeanbieter stärker in die Begutachtung eingebunden werden? Welche Qualifikationen müssen professionelle Pflegepersonen mitbringen, um Informationen für die Pflegebegutachtung zuzuarbeiten? Wie lassen sich Informationen aus der Pflegebegutachtung im informellen Setting besser nutzen, um in belastenden Situationen gezielt zu unterstützen? Und wie können digitale Kommunikations- und Begutachtungsmöglichkeiten sinnvoll integriert werden?

Diesen und weiteren Fragen wird der Medizinische Dienst im Rahmen eines wissenschaftlichen Modellprojekts nachgehen. Das Pflege-Unterstützungs- und Entlastungsgesetz (PUEG) ermöglicht dem Medizinischen Dienst, gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Erfahrungen der bisherigen Begutachtungspraxis zu nutzen, um innovative Ansätze für eine Weiterentwicklung der Pflegebegutachtung entwickeln und erproben zu können.

In diesem Rahmen soll nun gemeinsam mit den Pflegewissenschaftlerinnen Prof. Alina Dreier-Wolfgramm und Prof. Jana Petersen sowie dem Pflegewissenschaftler Prof. Andreas Büscher und dem Pflegeexperten Prof. Thomas Klie die Pflegebegutachtung im Sinne einer Setting-orientierten Begutachtung weiterentwickelt werden. Dabei wird u. a. geprüft, wie Menschen in häuslichen Pflegearrangements und ihre An- und Zugehörigen durch die Pflegebegutachtung besser unterstützt und entlastet werden können. Für die professionelle Pflege wird untersucht, wie die Verzahnung zwischen unabhängiger Begutachtung durch den Medizinischen Dienst und der Aufgabenwahrnehmung durch professionelle Pflegepersonen praktisch ausgestaltet werden kann.

Ausblick

Seit März 2025 läuft bereits ein Modellprojekt zur Weiterentwicklung der Pflegebegutachtung: Ein Wissenschaftsteam der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg unter der Leitung von Prof. Thorsten Meyer-Feil untersucht derzeit in ausgewählten Medizinischen Diensten, inwieweit ärztliche Aufgaben bei der Indikationsstellung für eine medizinische Rehabilitation auf die pflegefachlichen Gutachterinnen und Gutachter übertragen werden können. Würde eine solche Übertragung gelingen, würde das Berufsbild professioneller Pflegepersonen beim Medizinischen Dienst gestärkt und Prozesse könnten effizienter gestaltet werden.

Die Pflegebegutachtung ist nicht nur Voraussetzung, damit pflegebedürftige Menschen zeitnah Pflegeleistungen erhalten. Sie ist zugleich ein Ausgangspunkt für die weitere Versorgungsplanung und sie kann Notwendigkeit und Möglichkeiten präventiver Unterstützung aufzeigen. So verstanden ist die Weiterentwicklung der Pflegebegutachtung hin zu einem flexiblen und stärker auf die individuellen Lebensumstände der Pflegebedürftigen abgestimmten Verfahren ein wichtiger Schritt, um die Ressourcen der Gutachterinnen und Gutachter noch besser zur Förderung der Selbstständigkeit pflegebedürftiger Menschen nutzen zu können.

Titelbilder vergangener Ausgaben

forum-Archiv

Hier finden Sie ältere Magazin-Ausgaben als PDF zum Download.