Nicht nur medizinische Versorgung und Vorsorge dienen der Gesundheit, sondern auch Faktoren wie gerechter Lohn und gesundes Klima. Doch nicht jeder hat Zugang dazu. Stattdessen herrscht gesundheitliche Ungleichheit. Dies ist nicht nur ein deutsches Problem. Europaweit werden Lösungen gesucht.
Die ungleiche Verteilung von Gesundheitschancen und Krankheitsrisiken belegen verschiedene Studien. Menschen mit niedrigem Einkommen, niedriger Bildung und Berufen, die wenig Entscheidungsspielräume und Verantwortung zulassen, weisen deutlich höhere Krankheits- und Sterblichkeitsrisiken auf. Dabei gilt: Je größer der Grad der Benachteiligung ist, desto schlechter ist womöglich der Gesundheitszustand und desto kürzer ist die Lebenserwartung. Gesundheitliche Ungleichheiten manifestieren sich auf unterschiedliche Weise und sind ein weltweites Problem, das in den vergangenen Jahren angesichts von Pandemie und Krisen spürbar zugenommen hat.
Schlechte Luft
Dass und wie sich auch das unterschiedliche Lebens- und Wohnumfeld auf die Gesundheit auswirkt, zeigt zum Beispiel ein Blick auf die katalanische Hauptstadt Barcelona. Hier war die Luftqualität in der Vergangenheit ausgesprochen schlecht. 2002 riss die Stadt den EU-Grenzwert für Stickoxide in der Luft, so ein Bericht des Gesundheitsamtes der Stadt aus dem Jahr 2017. Die Folge der schlechten Luft: Über 400 Menschen starben zwischen 2010 und 2017 vorzeitig. Schlechte Luft beeinflusst nicht nur dort die Lebenserwartung. So sind nach einem Bericht des Fachmagazins The Lancet Planetary Health im Jahr 2019 weltweit neun Millionen Menschen vorzeitig an Umweltverschmutzung gestorben, die Hälfte von ihnen allein an verschmutzter Luft. Das entspricht einem von sechs Todesfällen weltweit, so The Lancet Planetary Health.
Städter leben laut
»Gute Luft und ruhiges Wohnen sind oft nur für die Wohlhabenden, die sich ein Haus in den grünen Villenvierteln leisten können«, sagt die Umwelt-Epidemiologin Prof. Barbara Hoffmann von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie bestätigt, dass Städter, die in beengten, lauten Wohnungen leben und von Schadstoffen belastete Luft atmen müssen, eher und länger krank werden. So hätten Menschen, die in Städten mit hohem Feinstaubund Stickoxid-Gehalt in der Luft leben und oft Straßenlärm ausgesetzt sind, unter anderem ein erhöhtes Risiko, an Lungen- und Atemwegserkrankungen, Asthma und Herz-Kreislauf-Krankheiten zu erkranken. Eine Studie des Berliner Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung mit 341 Probanden hat sogar einen Zusammenhang zwischen Hirngesundheit und Wohnort ermittelt. Wer nicht in einer lauten Innenstadt, sondern im beschaulichen Grüngürtel oder am Waldrand wohnte, zeigte vermehrt Hinweise auf eine laut MRT-Untersuchung physiologisch gesunde Struktur der Amygdala und vermutlich dadurch einen besseren Umgang mit Stress.
Damit wird klar, warum vor allem von Armut betroffene Menschen zum Beispiel häufiger an chronischen Krankheiten oder Stress erkranken: Sie können sich gesunde Wohnorte im Grünen nicht leisten. Oft führen bereits die Mietkosten in die Armut. Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung bleibt 2,1 Millionen Menschen hierzulande nach Abzug der Miete weniger als das Existenzminimum. Klar, dass sie sich infolgedessen seltener gesunde Nahrungsmittel, einen Saunabesuch oder den Mitgliedsbeitrag für den Sportverein leisten können – und deshalb zum Beispiel eher an Adipositas oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden.
Große Versorgungsunterschiede zwischen den Ländern der EU
»Diese Zusammenhänge sind vielfach belegt«, betont auch die Epidemiologin Hoffmann. Und zwar nicht nur innerhalb Deutschlands, auch zwischen den Ländern Europas sieht man starke gesundheitliche Ungleichheiten. Der wissenschaftliche Dienst des Europäischen Parlaments hat die gesundheitlichen Ungleichheiten in der EU analysiert. So liegen zum Beispiel in Litauen die Sterbefälle bei Frauen aufgrund von Herzkrankheiten 13-mal höher als in Frankreich (32 bzw. 429 Sterbefälle je 100000 Frauen). Auch bei der Krebssterblichkeit bestehen innerhalb der EU große Unterschiede: 2016 starben in Ungarn und Kroatien jeweils 330 Menschen je 100000 Einwohner an Krebs. In Zypern waren es nur 194.
Vielleicht sind in Ungarn auch deshalb relativ viele Menschen an Krebs gestorben, weil es dort 2016 weniger MRT- und CT-Geräte gab als im EU-Schnitt. EU-weit standen je 100000 Einwohner 2,2 CT-Geräte und 1,4 MRT-Geräte zur Verfügung. »Die niedrigste Verfügbarkeitsrate beider Technologien (0,9 bzw. 0,4 Geräte je 100000 Einwohner) wurde in Ungarn verzeichnet«, heißt es in dem Bericht des wissenschaftlichen Dienstes des EU-Parlaments ›Bewältigung gesundheitlicher Ungleichheiten in der Europäischen Union‹.
Einen ganz anderen Zusammenhang verdeutlichte eine Studie aus Finnland: Sie zeigte, dass die Einnahme von Arzneimitteln gegen Asthma, Bluthochdruck und von Psychopharmaka stieg, je seltener sich die Betroffenen im Grünen aufhielten. Umgekehrt sank der Verbrauch, je länger die Probanden sich im Grünen aufhielten. Der Effekt war besonders bei den Blutdrucksenkern zu beobachten. Hier sank die Einnahme der Arznei bei Menschen, die fünfmal in der Woche im Grünen waren, im Vergleich zu denen, die nie oder nur einmal wöchentlich in der Natur waren, um 41%.
Niedrigschwellige Beratungen
Was lässt sich tun gegen die gesundheitliche Ungleichheit? Unzählige Projekte im In- und Ausland bemühen sich um eine gerechte Gesundheitsversorgung diesseits einer Behandlung in Klinik oder Praxis. In der Poliklinik Hamburg Veddel zum Beispiel versucht man mit gezielten, niedrigschwelligen Beratungsangeboten insbesondere diejenigen zu erreichen, die sozial und gesundheitlich benachteiligt sind. Rund 5000 Menschen leben in dem traditionellen Arbeiterstadtteil, viele mit niedrigem Einkommen, viele ohne Arbeit, etwa drei Viertel mit Migrationshintergrund. Unter dem Dach der Poliklinik werden verschiedene Angebote gemacht, wie eine Sozialberatung, eine psychologische Beratung, die Gemeinwesenarbeit oder die Community Health Nurse zusammen mit einer Hausarzt- und Hebammenpraxis.
Krisenhotline und Schuluntersuchung
Oder in Slowenien: Dort half eine Telefonhotline dabei, psychisch belastete Anrufende während der Corona-Pandemie zu beraten. Organisiert wurden die ›Krisen-Telefon-Hotlines‹ durch die rund 60 Gesundheitsförderungszentren. Sie waren während der Pandemie geschlossen und konnten nun wenigstens einen Teil der Lücken, die bei der psychologischen Beratung entstanden waren, per Telefon schließen. Zwischen März und Mai 2020 wurden fast 1500 Telefongespräche geführt.
In Finnland werden vor allem Kinder und Jugendliche in den Blick genommen: Alle Schulen bieten neben dem Unterricht auch eine Reihe von kostenlosen Gesundheits- und Sozialdiensten an. »Die schulische Gesundheitsversorgung mit ihren regelmäßigen Gesundheitsuntersuchungen soll die Gesundheit der Schüler unterstützen und potenzielle Gesundheitsprobleme so früh wie möglich erkennen«, heißt es auf dem Portal health-inequalities.eu. Das System habe im Hinblick auf die Chancengleichheit »sehr gute Ergebnisse erzielt«.
Berechnungen zeigen, dass durch die Superblocks viele Krankheitsfälle vermieden werden.
Und Barcelona? Inzwischen hat die alte Römerstadt mit ihrem schachbrettartigen Grundriss buchstäblich die Fundamente gelegt für die ›Superblocks‹. Sie sollen Lärm und Schmutz in der Stadt reduzieren und Gesundheit und Lebensqualität für alle verbessern. In den Straßengevierten wurden die Durchgangsstraßen mit Pollern und Pflanzkübeln versperrt für alles, was größer ist als Rollstuhl, Kinderwagen oder Fahrrad. Hier herrscht Schrittgeschwindigkeit. Einzig einige Stichstraßen führen die Autofahrer in die verkehrsberuhigten Nachbarschaften hinein und auf demselben Wege wieder hinaus.
Der Effekt liegt auf der Hand. »Berechnungen zeigen, dass durch die Superblocks viele Krankheitsfälle vermieden werden«, resümiert Barbara Hoffmann. »So sind die Bewohner der Superblocks viel mehr zu Fuß unterwegs. Untersuchungen haben gezeigt, dass jede Stunde körperlicher Tätigkeit am Tag das Risiko für einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall um 20% senkt.«