Die Psychiatrie in Deutschland hat ein ambivalentes Verhältnis zu Glaube und Spiritualität. Dabei können religiöse Überzeugungen bei psychischen Erkrankungen nachweislich als Ressource genutzt werden. Religionssensible Psychotherapie wird zunehmend stärker nachgefragt.
Glaube ist eine vielschichtige Angelegenheit: Fast die Hälfte der in Deutschland lebenden Menschen gehört einer Konfession an, doch nur ein Bruchteil davon praktiziert diese auch, z. B. durch regelmäßige Gottesdienstbesuche. Doch auch andere Glaubenskonzepte oder spirituelle Überzeugungen – von der Anthroposophie bis zum Zen – prägen zahlreich den Alltag. Glauben ist komplex und persönlich: Jemand kann Steuern an die katholische Kirche zahlen, zugleich aber die buddhistische Meditation der Beichte vorziehen. Nur ein Drittel der Deutschen bezeichnet sich als atheistisch oder agnostisch und auch davon liest vielleicht die eine oder der andere gelegentlich sein Horoskop.
Glauben ist komplex und persönlich.
Fragen nach dem Sinn
Doch woran auch immer Menschen glauben oder nicht glauben, ihnen allen ist gemeinsam, dass sie psychisch erkranken können. Laut der Deutschen Gesellschaft für Psychotherapie und Psychiatrie e.V. (DGPPN) erfüllt mehr als jeder vierte deutsche Erwachsene im Zeitraum eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung, am häufigsten sind Angststörungen und Depressionen.
Gefühle der Hoffnungslosigkeit und Fragen nach dem Sinn der Krise gehören zu den typischen Begleitern einer psychischen Erkrankung und beziehen sich zugleich auf Themen, für die auch Religionen Erklärungsmodelle liefern möchten.
Doch die Psychotherapie, die sich die Heilung psychischer Erkrankungen mit wissenschaftlichen Mitteln zur Aufgabe gemacht hat, hat ein gespanntes Verhältnis zur Religion. Diese Abgrenzung der Disziplinen hat vielfältige Wurzeln, vor allem im Zeitalter der Aufklärung, aber auch Sigmund Freud hat seinen Anteil daran. Der Begründer der Psychoanalyse setzte Religion mit einer ›kollektiven Zwangsneurose‹ gleich und beschrieb Glaube als kindliche Sehnsucht nach einem schützenden Vater. Darin sei die Gefahr eines Machtmissbrauchs angelegt, weswegen eine weltanschauliche Neutralität für die Psychiatrie von besonderer Bedeutung sei.
Ratgeber boomen
Auch wenn diese scharfe Trennung zum Teil methodisch begründet werden konnte, schuf sie zugleich einen blinden Fleck. Prof. Dr.Michael Utsch, Religionspsychologe und Psychotherapeut, spricht von einer Vernachlässigung existentieller und spiritueller Themen: »Daraus entwickelte sich ein großer Widerspruch zwischen einem spirituellen Orientierungsbedarf in der Bevölkerung und wenig psychologischer Reflexion und Verständnis für diese Dimension.« Auch deswegen würden gegenwärtig esoterische Ratgeber boomen. Denn Antworten suchen die Menschen immer und in Krisen besonders. Wenn die Psychotherapie diese Themen nicht in die Praxis lasse, könne sie ihren Patientinnen und Patienten nicht gerecht werden.
Denn Antworten suchen die Menschen immer und in Krisen besonders.
Dieser blinde Fleck betrifft auch die Forschung: Zwar weisen zahlreiche Studien nach, dass ein gelebter Glaube signifikante positive Effekte auf die psychische Gesundheit hat. Gläubige genesen z. B. schneller von leichten und mittelschweren Depressionen. Doch die meisten Studien entstehen in den USA, wo Seelsorge und Psychotherapie auffallend wenig Berührungsängste haben. Die Ergebnisse lassen sich daher kaum übertragen. Die Psychologen Christian Zwingmann und Constantin Klein konnten immerhin auch für den deutschsprachigen Raum leichte positive Effekte von Religiosität auf die psychische Gesundheit nachweisen, auch wenn diese im Vergleich zu nordamerikanischen Studien schwächer ausfielen. Zudem wurden deutlichere Hinweise gefunden, dass negative spirituelle oder religiöse Überzeugungen psychische Beeinträchtigungen hervorrufen können. Ihr Fazit: Glaube oder Spiritualität sind für das psychische Wohlergehen relevant.
Mystische Erfahrungen und Psychose
In Norbert Mönters Buch Religionssensible Psychotherapie und Psychiatrie erzählt Angelika von ihrer Erfahrung mit Spiritualität und Psychotherapie: Über die Initiative EX-IN (Experienced Involvement) hat sie sich zur Genesungsbegleiterin ausbilden lassen, nachdem sie eine Psychose erlitten hatte, die sich anfänglich als intensive spirituelle Erfahrung äußerte und schließlich in eine unerträgliche Entfremdung von der Außenwelt steigerte. Die klassische medikamentöse Behandlung half ihr zwar aus der Psychose. Aber die Themen, die während ihrer psychischen Krise hervortraten, die Sinnsuche, das sinnliche und spirituelle Erleben, wurden auf die Krankheit reduziert. Die Ärzte rieten ihr, sich nicht weiter damit zu beschäftigen. Sie wurde entmutigt, darüber zu sprechen. Gerade dadurch verlor sie erneut den Halt und erlitt eine schwere Depression.
Gerade die Frage nach dem Sinn des Lebens, die sich in jeder Krise in den Vordergrund drängt und überwältigend wird, ist nicht von heute auf morgen zu klären.
Seither hat sie viele weitere Krisen überwunden und für sich selbst eine fragile Balance aus Sinnsuche und Achtsamkeit gefunden. Heute ist sie der Auffassung, dass Menschen auch bezüglich der Themen, die Gegenstand ihrer Psychosen sind, wertschätzend begleitet werden sollten, dass Empathie und Geduld wesentlich für die Heilung sind. »Gerade die Frage nach dem Sinn des Lebens, die sich in jeder Krise in den Vordergrund drängt und überwältigend wird, ist nicht von heute auf morgen zu klären.«
Ressource oder Belastungsfaktor?
Auch durch Migration und kulturell vielfältigere Lebensentwürfe bekommen religiöse und spirituelle Themen zunehmend mehr Gewicht für eine zeitgemäße Psychotherapie. Wie soll sich beispielsweise eine Muslima auf eine Psychotherapie einlassen, wenn sie annehmen muss, dass ihr Glaube von einem atheistischen Therapeuten ignoriert oder abgewertet wird? Doch allein die Öffnung hin zu diesen Themen reicht womöglich nicht aus.
Die DGPPN hat daher im Jahr 2016 das Referat ›Religiosität und Spiritualität‹ ins Leben gerufen. Das von Michael Utsch geleitete Referat trägt mit seinen Beiträgen zu einem ›spiritual turn‹, also einer spirituellen Wende in der deutschsprachigen Psychotherapie bei. Dazu fordert es »eine kulturund religionssensible Versorgung von Patienten« und eine »ganzheitliche Wahrnehmung ihrer Lebenssituation einschließlich deren existentieller, spiritueller und religiöser Dimension«. Empfohlen wird unter anderem, dass schon in der Anamnese religiöse oder spirituelle Überzeugungen der Patienten sowie deren Stellenwert erfasst werden sollten. Der Behandler sollte zudem unterscheiden können, ob ein vorhandener Glaube eine Ressource oder einen Belastungsfaktor darstellt.
Auch sollten Psychotherapeutinnen und -therapeuten ihre eigene weltanschauliche Orientierung reflektieren, Selbsterfahrungsangebote nutzen und sich zu Religions- und Weltanschauungsfragen fortbilden, um besser auf die spirituellen Bedürfnisse ihrer Patientinnen und Patienten eingehen zu können. Kritiker sehen darin aber auch die Gefahr, dass methodische Grenzen verschwimmen, Psychotherapeuten also z. B. zum Gebet in der Therapie animieren könnten. Das österreichische Bundesministerium für Gesundheit hat daher bereits 2014 eine ›Richtlinie zur Frage der Abgrenzung der Psychotherapie von esoterischen, spirituellen, religiösen und weltanschaulichen Angeboten‹ herausgegeben.
Auch die DGPPN spricht sich für die Neutralität des Behandlers aus und damit für eine klare Trennung der Aufgaben von Seelsorge und Psychotherapie. Ein Austausch zwischen den Professionen sei aber durchaus zu begrüßen.
Inzwischen bekommen Fort- und Weiterbildungen zu Religion und Spiritualität in der Psychotherapie mehr und mehr Zulauf, auch Forschungsprojekte und Publikationen nehmen zu. Doch nicht überall hat sich die Skepsis in Wohlgefallen aufgelöst. Auch die Psychologin Herta Brinskele erlaubt sich, kritische Fragen zu stellen, erkennt aber an, dass das Bedürfnis zu glauben zutiefst menschlich ist. Die Frage nach dem Glauben hat für sie den Charakter eines Bekenntnisses und einer Schicksalsfrage und ist damit »therapeutisch höchst relevant«.