Selbstzahlerleistungen sind eine lukrative Einnahmequelle für ärztliche Praxen. Laut aktuellem IGeL-Report 2024 zahlen gesetzlich Versicherte in Deutschland pro Jahr mindestens 2,4 Milliarden Euro für IGeL aus eigener Tasche. Damit liegt der jährliche Umsatz sehr viel höher als bisher angenommen.
Bei Medienanfragen an den IGeL-Monitor geht es zumeist und zuerst um zwei Aspekte: Wie viele IGeL gibt es eigentlich? Und wie viel Geld zahlen Versicherte für IGeL? Beide Fragen konnten bislang nicht konkret beantwortet werden. Der Grund: Es gibt mehrere hundert IGeL. Genauer lässt sich die Zahl der IGeL nicht beziffern, da der Markt unübersichtlich ist und ständig neue Leistungen hinzukommen oder unterschiedliche Leistungen als Kombipakete zusammengefasst werden. Zu den Ausgaben werden seit vielen Jahren lediglich veraltete Schätzungen zitiert, die davon ausgehen, dass der jährliche Umsatz mit IGeL-Leistungen etwa eine Milliarde Euro beträgt. Die Ergebnisse des IGeL-Reports 2024 zeigen nun, dass diese Zahl deutlich nach oben korrigiert werden muss: Gesetzlich Krankenversicherte geben im Jahr mindestens 2,4 Milliarden Euro für IGeL-Leistungen aus. Diese Zahl ist belastbar und es gab sie vorher nicht.
Die Umsatzdaten – belastbar, aber konservativ
Der IGeL-Report 2024 enthält die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung zu IGeL-Leistungen, die der Medizinische Dienst Bund als Initiator und Betreiber des IGeL-Monitors bei der Unternehmensberatung aserto in Auftrag gegeben hat. Wissenschaftlich begleitet wurde die Erhebung durch den Gesundheitsökonomen Prof. Dr. Jonas Schreyögg, Lehrstuhl für Management im Gesundheitswesen an der Universität Hamburg und wissenschaftlicher Direktor des Hamburg Center for Health Economics (HCHE).
Die Befragung wurde im Online-Panel des Marktforschungsinstituts forsa durchgeführt. Die Befragten repräsentieren hinsichtlich Alter, Geschlecht, Bundesland und Wohnort die Gemeinschaft der gesetzlich Versicherten in Deutschland. Befragt wurden 2013 gesetzlich Krankenversicherte zwischen 18 und 80 Jahren im Zeitraum vom 17. Juli bis 12. August 2024. Um sicherzustellen, dass die in der Befragung genannten Ausgaben ausschließlich IGeL betrafen, wurden zahnärztliche Leistungen, Leistungen, die im Zusammenhang mit einem Klinikaufenthalt erbracht wurden, homöopathische Leistungen, kosmetische und schönheitschirurgische Leistungen sowie Ausgaben für Arzneimittel, Physiotherapie oder Krankenbeförderung von vorneherein ausgeschlossen.
Über 80 % der Befragten konnten sich sowohl an die konkrete IGeL als auch an deren Kosten präzise erinnern. Konnten sich die Befragten nicht mehr genau an den Preis erinnern, hatten sie die Möglichkeit, die Kosten auf einer zehnstufigen Skala zu schätzen.
Da auch Versicherte unter 18 und über 80 Jahren IGeL-Leistungen nutzen, ist davon auszugehen, dass der tatsächliche Gesamtumsatz mit IGeL-Leistungen noch höher ist als 2,4 Milliarden Euro.
Die Zahlen hinter den Zahlen
Die präzise Zuordnung der Kosten zu einzelnen Leistungen erlaubt einen differenzierten Blick auf den IGeL-Markt. Es zeigt sich, dass Faktoren wie Alter, Geschlecht, Einkommen, Schulbildung, ja sogar das Bundesland, in dem die Befragten wohnen, die Inanspruchnahme von IGeL beeinflussen. Sowohl bei Frauen als auch bei Männern nimmt die IGeL-Nutzung mit steigendem Alter zu. Insgesamt nutzen Frauen IGeL in allen Altersgruppen deutlich häufiger als Männer. Die Auswertung nach Regionen zeigt, dass in Bayern und Baden-Württemberg am häufigsten ›geigelt‹ wird, in Nord- und Ostdeutschland deutlich weniger. Steigen Einkommen und Schulbildung bei den Versicherten, sind sie öfter bereit, Geld für IGeL auszugeben
In vielen Punkten ähneln die aktuellen Ergebnisse denen früherer IGeL-Reports: So hat sich zum Beispiel an den zehn am häufigsten genutzten IGeL (›Top-10-Liste‹) und an den Fachrichtungen, die besonders oft IGeL anbieten, kaum etwas verändert. Neu ist aber, dass sich neben der Häufigkeit nun auch bestimmen lässt, wie viel Geld mit der jeweiligen IGeL in Deutschland verdient wird. Die höchsten Umsätze mit jeweils 500 Millionen Euro werden in den Fachgebieten Gynäkologie und Augenheilkunde erzielt. Aber auch in den Fachgebieten Allgemeinmedizin (341 Mio. Euro) sowie Orthopädie und Unfallmedizin (397 Mio. Euro) werden hohe Summen umgesetzt.
Auf Platz 1 der Top-10-IGeL liegen der Ultraschall der Eierstöcke und der Gebärmutter zur Krebsfrüherkennung. Patientinnen geben dafür pro Jahr 143 Millionen Euro aus. Platz 2 der am häufigsten genutzten IGeL belegt die Augeninnendruckmessung mit oder ohne Augenspiegelung zur Glaukom-Früherkennung, für die Versicherte 100 Millionen Euro bezahlt haben. Unter den Top-10 ist auch wieder die PSA-Bestimmung zur Früherkennung von Prostatakrebs mit einem Umsatz von 52 Millionen Euro. Alle drei IGeL schaden mehr als sie nützen. Sie werden vom Wissenschaftsteam des IGeL- Monitors mit ›tendenziell negativ‹ bzw. ›negativ‹ bewertet.
585 Millionen für ›unklar‹ oder ›(tendenziell) negativ‹ bewertete IGeL
Die Versicherten benannten in der Befragung 134 verschiedene IGeL. Zu 26 dieser Leistungen gibt es eine wissenschaftliche Bewertung im IGeL-Monitor – zwei IGeL wurden mit ›tendenziell positiv‹ bewertet, 24 IGeL entweder mit ›unklar‹ oder mit ›(tendenziell) negativ‹. Allein für die IGeL, die mit ›unklar‹ oder ›(tendenziell) negativ‹ bewertet wurden, geben Versicherte weit über eine halbe Milliarde Euro im Jahr aus.
Ein großer Teil der am häufigsten genutzten IGeL sind Früherkennungsuntersuchungen, allen voran in gynäkologischen Praxen. Der Vorstandsvorsitzende des Medizinischen Dienstes Bund, Dr. Stefan Gronemeyer, konstatierte Anfang Dezember auf der diesjährigen Pressekonferenz zur Vorstellung des IGeL-Reports: »Mit Sorge sehen wir, dass der Ultraschall der Eierstöcke und der Ultraschall der Gebärmutter zur Krebsfrüherkennung nach wie vor auf Platz eins der verkauften IGeL stehen. Beides sind Leistungen, die vom IGeL-Monitor mit ›negativ‹ beziehungsweise ›tendenziell negativ‹ bewertet wurden.« Bei diesen Untersuchungen kann es zu vielen falsch-positiven Ergebnissen und dadurch zu unnötigen weiteren Untersuchungen und Eingriffen kommen, die den Patientinnen schaden können. Gleichzeitig ist nicht belegt, dass das Risiko an Eierstockkrebs zu sterben, damit verringert werden kann. Daher raten auch Fachgesellschaften seit Jahren davon ab, diese Leistungen anzubieten.
Informationsdefizite und Fehlannahmen
Der IGeL-Report zeigt, dass knapp einem Drittel der Befragten eine IGeL als eine ›für ihre Gesundheit notwendige Leistung, die aber von den Krankenkassen nicht bezahlt wird‹, verkauft wird. Über die Hälfte der Befragten hält IGeL für ›wichtig für den Erhalt der Gesundheit‹ und nimmt an, ›dass IGeL einem höheren medizinischen Standard entsprechen als Leistungen, die von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt werden‹.
Der bedrückende Befund ist, dass Patientinnen und Patienten aus Unwissenheit und Sorge um ihre Gesundheit große Summen für fragwürdige und sogar schädliche Leistungen ausgeben
Schreyögg sagte dazu anlässlich der Vorstellung des IGeL-Reports: »Besorgniserregend ist, dass ein Umsatz von 718 Millionen Euro auf Angebote zurückzuführen ist, die in den Praxen gemäß Aussage der Versicherten als notwendige Leistungen deklariert werden, die nicht von der Krankenkasse übernommen werden.«
Mehr als die Hälfte der Befragten gibt an, nicht oder nur teilweise über ausreichend Wissen über IGeL zu verfügen, um eine begründete Entscheidung für oder gegen die Inanspruchnahme treffen zu können. Insofern stellt Gronemeyer fest, »dass IGeL kein Randproblem sind, sondern ein Massenphänomen. Der bedrückende Befund ist, dass Patientinnen und Patienten aus Unwissenheit und Sorge um ihre Gesundheit große Summen für fragwürdige und sogar schädliche Leistungen ausgeben«, und fordert: »Nicht akzeptabel ist die unzureichende Aufklärung über mögliche Schäden der angebotenen IGeL. Die Arztpraxen sollten verpflichtet werden, die Patienten zu informieren, wenn sie solche Leistungen anbieten.«