Welchen Nutzen und welchen Schaden haben medizinische Leistungen für die Patientinnen und Patienten? Welche Vorteile und welche Nachteile bringen bestimmte Untersuchungs- und Behandlungsverfahren mit sich? Über die Aufgaben und Arbeit des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) sprach forum mit Dr. Thomas Kaiser, Leiter des IQWiG.
Herr Dr. Kaiser, das IQWiG wird im Herbst 20 Jahre alt. Als Leiter der Arzneimittelbewertung waren Sie von Anfang an mit dabei. Auf welche Meilensteine und Erfolge blicken Sie persönlich mit besonderem Stolz zurück?
Da ist zunächst die Umsetzung der frühen Nutzenbewertung zu nennen. Wir sind damals innerhalb kurzer Zeit von einer Einzelbeauftragung ohne enge gesetzliche Fristen in eine Regelbewertung neuer Arzneimittel innerhalb von drei Monaten übergegangen. Das hat erhebliche Veränderungen für das Ressort mit sich gebracht. Bei den Vorbereitungen haben wir unter Leitung des G-BA das Verfahren mitgestaltet, insbesondere die Vorgaben für das Herstellerdossier. Davon profitieren wir heute noch.
Ein zweiter Meilenstein war die Bearbeitung des Themas ›unpublizierte Daten‹. Zu Arzneimittelstudien werden in der Regel ausführliche Studienberichte erstellt, die zumeist nicht öffentlich zugänglich sind. Studienberichte enthalten erheblich mehr Informationen zu Studienmethodik und -ergebnissen als Publikationen in Fachzeitschriften. Diese Studienberichte haben wir regelhaft von den Herstellern angefordert. Das hat uns nicht nur transparente und unverzerrte Bewertungen ermöglicht. Wir haben diese Informationen auch dazu genutzt, die Fachöffentlichkeit über den Wert der Studienberichte und auch die Unvollständigkeit der Publikationen zu informieren. Im Jahr 2011 haben meine Co-Leitung, Dr. Beate Wieseler, und ich stellvertretend für das Ressort Arzneimittelbewertung daher den David-Sackett-Preis des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin erhalten. Das war eine tolle Belohnung für das gesamte Ressort.
Als Drittes möchte ich den Austausch mit Fachgesellschaften erwähnen. Die Anhörungen zu neuen Arzneimitteln waren insbesondere zu Beginn kontrovers, wenn wir zum Beispiel festgestellt haben, dass die Zulassungsstudien die für die Betroffenen relevanten Endpunkte nicht untersucht haben oder die Vergleichstherapie nicht der Standardversorgung in Deutschland entsprach. Bei dieser Kontroverse wollte ich nicht stehenbleiben, sondern überlegen, wie die Studien zukünftig verbessert werden können. Das ist im Bereich Diabetes mellitus, Epilepsie und Multiple Sklerose in sehr konstruktiver Atmosphäre gelungen, und entsprechende Empfehlungen haben wir gemeinsam mit Fachexperten erarbeitet und publiziert.
Anfänglich wurde das IQWiG harsch kritisiert: Das Institut führe einen Kreuzzug gegen moderne Arzneimittel und ihre Hersteller, hieß es. Heute gilt das Haus national und international als renommierte Adresse und unabhängige Instanz. Welches Erfolgsrezept steckt dahinter?
Ich kann sagen: Wir agieren absolut seriös. Uns ist bewusst, dass mit unserer Aufgabe eine hohe Verantwortung verbunden ist. Das erfordert Professionalität, sich weiterzuentwickeln, für gute Argumente offen zu sein, aber auch: kein Wischiwaschi in der Beurteilung der Daten und der darauf basierenden Schlussfolgerung. Vorteile neuer Therapien benennen wir, Nachteile auch, und wenn keine relevanten Daten vorliegen, dann stellen wir auch das dar. In Gesprächen, auch mit Vertretern der pharmazeutischen Industrie, bekomme ich gespiegelt, dass es diese Professionalität, Klarheit und Verlässlichkeit ist, die sehr wertgeschätzt wird.
Warum ist das IQWiG in Zeiten wie diesen unverzichtbar?
Eine gute Gesundheitsversorgung ist für viele Menschen ein hohes Gut. Das IQWiG trägt dazu bei, dass die zunehmend knappen Mittel sinnvoll eingesetzt werden. Unsere Gesundheitsinformationen ermöglichen den Bürgerinnen und Bürgern zudem, sich unabhängig über die verschiedenen Therapieoptionen zu informieren.
›Qualität‹ und ›Wirtschaftlichkeit‹ sind als Anspruch ja bereits im Namen des Institutes verankert, hat deren Relevanz bis heute zugenommen? Wenn ja, warum?
Für mich persönlich sind beide Aspekte nicht nur in den oben adressierten ›Zeiten wie diesen‹ relevant. Qualität, weil die bestmögliche Gesundheitsversorgung in guten wie in schlechten Zeiten wichtig ist. Und Wirtschaftlichkeit, weil es immer der Anspruch sein sollte, die Mittel, die von den Versicherten stammen, sachgerecht einzusetzen.
Das IQWiG steht in besonderem Maße für evidenzbasierte Medizin. Kommt diese im Gesundheitswesen zu kurz? Müsste sie zum Beispiel stärker in Ausbildung und Studium integriert werden?
Ja, das wäre wichtig. Dabei geht es nicht primär darum, Details der Studienbewertung zu erlernen, denn darum wird es für die wenigsten auch in ihrer späteren praktischen Tätigkeit gehen. Vielmehr sollte vor allem der Wert guter Forschung als wesentliche Grundlage für die eigene Tätigkeit vermittelt werden. Damit könnten wir langfristig zur dringend notwendigen Verbesserung der Forschungskultur in Deutschland beitragen. Der Wunsch, die offenen Fragen, die sich aus der täglichen Arbeit ergeben, beantworten zu wollen, sollte zur Selbstverständlichkeit werden.
Wie kann es gelingen, mehr wissenschaftliche Evidenz zu Diagnostik und Therapie zu generieren?
Wir müssen uns verstärkt dafür interessieren, offene Fragen mit guten Studien zu beantworten. Wenn das ein Leitmotiv unseres Handelns wäre, dann ließen sich daraus unter anderem zwei wichtige Punkte ableiten: Wir akzeptieren und identifizieren Nichtwissen, also ›offene Fragen‹, und führen diese regelhaft einer hochwertigen Forschung zwecks Klärung zu. Für neue Therapien könnte das zum Beispiel bedeuten, dass wir sie, sofern das Wissen noch unzureichend ist, nur mit begleitender Forschung in die Versorgung überführen. Dass wir dazu eine gute Forschungsinfrastruktur benötigen, die hochwertige Datenplattformen, Studiennetzwerke und anderes umfasst, wäre dabei eine wichtige Voraussetzung, um diese Forschung ohne erheblichen Mehraufwand in die Versorgung zu integrieren.
Sind andere Länder da weiter als wir?
Ja, zum Beispiel Großbritannien, wie wir in der Pandemie gesehen haben, oder Schweden, die eine Registerinfrastruktur aufgebaut haben, die für die Durchführung registerbasierter randomisierter Studien genutzt wird.
Gestartet ist das Institut 2004 mit einem elf köpfigen Team – wie viele Mitarbeitende beschäftigt das IQWiG heute und wie ist die Arbeit grob gegliedert?
Inzwischen arbeiten fast 300 Menschen im IQWiG. Das vielfältige Aufgabenspektrum, wie zum Beispiel die Bewertung von Arzneimitteln und nicht medikamentösen Verfahren, die Unterstützung des G-BA bei Disease-Management-Programmen oder die Erstellung von Gesundheitsinformationen spiegelt sich in der Organisationsstruktur wider. Unterstützung liefern dabei die sehr gut aufgestellten Querschnittsressorts Informationsmanagement und Medizinische Biometrie sowie, wie in jeder guten Organisation, die Stabsbereiche und die Verwaltung.
Das IQWiG erhält seine Aufträge vom G-BA und vom Bundesgesundheitsministerium, das Aufgabenspektrum wächst stetig: So startet ab 2025 die europäische Nutzenbewertung neu zugelassener Arzneimittel und Medizinprodukte. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Die europäische Nutzenbewertung wird für das IQWiG weniger eine inhaltliche Herausforderung sein, weil wir unsere langjährige Erfahrung in der Nutzenbewertung von Arzneimitteln einbringen können. Die Herausforderung wird eher darin liegen, dass wir unsere Bewertungen in englischer Sprache und in Zusammenarbeit mit einer anderen europäischen Institution erstellen werden. Dieser verstärkte internationale und kooperative Blick wird aber auch ein wichtiger weiterer Entwicklungsschritt für das IQWiG sein.
Sie leiten das IQWiG seit mittlerweile einem Jahr: Was sind Ihre Vorsätze für die Zukunft?
Dass ich bei aller Aufgabenfülle den Gestaltungswillen behalte. Denn genau das hat mich für die neue Aufgabe motiviert: die herausragenden Möglichkeiten dieser international anerkannten Institution gemeinsam mit den vielen hochkompetenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu nutzen.