Wohnungslosigkeit betrifft auch Jugendliche und führt zu verschiedenen gesundheitlichen Problemen. Streetworker versuchen ihnen zu helfen.
Sie übernachten mal in einer Notunterkunft, mal bei einem Bekannten auf dem Sofa, in einem leerstehenden Gebäude oder auf der Straße: Junge Menschen, die obdachlos sind. Laut Bundeswohnungslosenbericht 2022 haben rund 38000 Menschen unter 27 Jahren in Deutschland kein eigenes Bett und damit keinen Ort, an dem sie sich sicher und geborgen vom Tag erholen können. Sie kommen aus allen Schichten, doch besonders häufig sind Jugendliche betroffen, die aus sozial benachteiligten Familien stammen. Die meisten suchen sich die Wohnungslosigkeit nicht selbst aus, sondern sie ergibt sich als Folge ganz unterschiedlicher Krisen: Oft sind es unerträgliche Situationen im Elternhaus oder in der Familie, in der sie zuletzt gelebt haben, wie zum Beispiel emotionale Vernachlässigung oder körperliche und sexuelle Gewalt. Manchmal führen eine psychische Erkrankung, ein Suchtproblem oder eine traumatische Erfahrung außerhalb der Familie zur Flucht auf die Straße.
Fliehen vor zerrütteten Verhältnissen
Die Sozialpädagogin Benthe Müller-Nickel kennt viele solcher Geschichten, sie leitet die Hamburger Streetwork Station der Stiftung Off Road Kids: »Meistens sind es die Erfahrungen in der Kindheit und Jugend, die dazu führten, dass die jungen Menschen wohnungslos wurden. Gleichzeitig fördert die Obdachlosigkeit eventuell schon vorhandene psychische Instabilitäten.«
Off Road Kids ist eine gemeinnützige Stiftung mit Standorten in Hamburg, Berlin, Frankfurt, Dortmund und Köln. Dort versuchen rund 60 Mitarbeiter Straßenkindern und jungen Obdachlosen zu helfen: durch Ansprache, Unterstützung bei der Wohnungssuche, Hilfe mit dem Antrag auf Bürgergeld oder bei gesundheitlichen Problemen etc., je nachdem, welches Problem gerade am dringendsten ist. »Es gibt keine strengen Regeln, es gibt keine Ausschlusskriterien. Das Einzige, was sie mitbringen müssen, ist eine Motivation, irgendwas mit uns besprechen zu wollen«, erklärt Müller-Nickel.
Es gibt keine strengen Regeln, es gibt keine Ausschlusskriterien. Das Einzige, was sie mitbringen müssen, ist eine Motivation, irgendwas mit uns besprechen zu wollen
Früher kamen die Streetworker von Off Road Kids durch den direkten Kontakt auf der Straße mit den Jugendlichen ins Gespräch, doch Smartphones und Social Media haben die Situation verändert. Durch Social Media und Co. finden Betroffene viel leichter als früher einen Schlafplatz für ein oder zwei Nächte – oft auf dem Sofa eines mehr oder weniger guten Social-Media-Bekannten. ›Sofa hopper‹ werden diese Jugendlichen genannt und sind damit nach der offiziellen Definition nicht mehr ›obdachlos‹, sondern ›wohnungslos‹, denn sie schlafen nicht auf der Straße. Das ändert aber nichts an ihrer prekären Situation, denn es bleibt die Unsicherheit: Wo kann ich nächste Nacht schlafen? Gleichzeitig sind junge Wohnungslose aber weniger sichtbar heutzutage. Darauf hat Off Road Kids reagiert. »Wir haben die Online-Plattform ›Sofa Hopper‹ ins Leben gerufen, weil wir merkten: Man trifft nicht mehr ganz so viele junge Menschen auf der Straße an. Sie sind aber nicht weg, sondern eher in einer verdeckten Obdachlosigkeit. Und die sprechen wir sehr intensiv über die sozialen Medien mit unseren Angeboten an«, beschreibt Müller-Nickel.

Chat ersetzt kein persönliches Gespräch
Die neuen Technologien ermöglichen ein besonders niedrigschwelliges Angebot: Per Chat oder Anruf fällt es vielen Jugendlichen leichter, den ersten Kontakt zu einem Streetworker aufzunehmen. Doch ein Chat kann nicht eine Beratung von Angesicht zu Angesicht ersetzen – schließlich geht es hier auch darum, Vertrauen zu gewinnen. Deswegen laden die Mitarbeiter von Off Road Kids nach dem ersten Chat immer auch zu einem persönlichen Gespräch ohne Bildschirm oder Hörer ein – ganz altmodisch von Mensch zu Mensch. In diesen Gesprächen geht es anfangs um akute Probleme, zum Beispiel um einen Schlafplatz für die Nacht oder etwas zu essen. Doch je vertrauter das Gespräch wird, umso schneller geht es auch um gesundheitliche Themen, sagt Müller-Nickel, wie zum Beispiel Zahngesundheit: »Teilweise kann man die gesundheitlichen Probleme sehen, teilweise erzählen sie auch, dass sie zum Beispiel sehr, sehr starke Schmerzen haben. Bei der psychischen Gesundheit ist es nicht immer auf den ersten Blick zu sehen.«
Reden über faule Zähne oder Ausschlag im Schritt?
Wenn man auf der Straße lebt, dann fallen andere Dinge ›unter den Tisch‹: Hygiene, Zahnpflege, Wundversorgung und auch regelmäßige Kontroll- oder Vorsorgeuntersuchungen. Ein weiteres Problem: Sexuell übertragbare Krankheiten und andere Infektionskrankheiten. Hier setzt das Programm Streetwork+ an, ein Projekt, das Off Road Kids in Kooperation mit der Bahn-BKK 2017 ins Leben gerufen hat. »Streetwork+ ist entstanden, weil wir merkten, dass die Gesundheitsthemen bei jungen Menschen auf der Straße oder in prekären Wohnsituation einen sehr großen Stellenwert einnehmen, aber von den jungen Menschen selbst meist vernachlässigt werden und dadurch schwierige Situationen entstehen können.«
Wir merkten, dass die Gesundheitsthemen bei jungen Menschen auf der Straße oder in prekären Wohnsituation einen sehr großen Stellenwert einnehmen, aber von den jungen Menschen selbst meist vernachlässigt werden.
So erinnert sich Müller-Nickel und beschreibt, welche Aktivitäten das Projekt beinhaltet. »Ganz vorne steht der Gedanke, Mitarbeiter zu schulen, damit sie noch besser zu Gesundheitsthemen beraten können. Außerdem gab es Schulungen in der Gesprächsführung: Wie gehe ich überhaupt so ein Thema an, ohne dass es voll Scham besetzt ist?« Egal, ob es um schlechte Zähne geht, einen Ausschlag im Genitalbereich oder psychische Probleme: Den jungen Menschen fällt es nicht leicht, darüber zu reden, die Scham ist groß – da ist viel Fingerspitzengefühl notwendig und Wissen. Sexuelle Aufklärung ist sehr wichtig, denn viele Jugendliche haben schlichtweg falsche Vorstellungen davon, wie sie sich vor HIV und anderen Geschlechtskrankheiten schützen können oder wie man eine Schwangerschaft verhütet. Aber auch Hygiene und gesunde Ernährung sind Themen, die die Streetworker behutsam mit ihren ›Kids‹ besprechen. »Die Bahn BKK unterstützt uns auch mit Infomaterialien«, erzählt Müller-Nickel. »Zum Beispiel Ernährungsbroschüren oder ein kleines Infektionspaket, um Infektionen vorzubeugen. Auf dem Infektionspaket stehen Infos drauf wie: ›Wie wasche ich mir richtig die Hände, welche Impfungen sind wichtig?‹«
Netzwerk von Ärztinnen und Ärzten
Wenn ein Jugendlicher so starke Schmerzen hat, dass er sofort einen Zahnarzttermin benötigt, oder wenn eine Jugendliche bereit ist, sich von einer Frauenärztin untersuchen zu lassen, dann helfen die Streetworker auch hier. Sie vereinbaren Termine und begleiten ihre Schützlinge in die Praxis, um ihnen die Angst zu nehmen. Streetwork+ unterstützt, dass die Streetworker ein Netzwerk von Ärzten und Ärztinnen aufbauen, die bereit sind, z. B. auch ohne Versichertenkarte eine akute Zahnbehandlung durchzuführen. Und Verständnis haben für die jungen Menschen, die anders aussehen als ihre üblichen Patienten – und oft auch außergewöhnlich misstrauisch und ängstlich sind. Das Projekt wird gut angenommen, in die Hamburger Station kommen jeden Monat etwa 50 bis 80 junge Menschen und lassen sich helfen. Seit diesem Jahr unterstützen neben der Bahn-BKK weitere Betriebskrankenkassen das Projekt streetwork+, so dass Müller-Nickel und ihre Kolleginnen und Kollegen weiterhin jungen Menschen zuhören und helfen können. Auch wenn es oft harte Schicksale sind, die diese jungen Menschen erlebt haben – Müller-Nickel sieht in dem jungen Lebensalter auch etwas Positives: »Das Potenzial der jungen Menschen ist noch so frisch und manchmal noch nicht aufgedeckt. Die haben noch viel vor sich und sie haben noch viele Möglichkeiten, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.«