Gesundheitssystem unter Druck

Von Dr. Silke Heller-Jung Lesezeit 4 Minuten
Symbolbild: Feuerwehrschlauch, aus dem mit Hochdruck Wasser spritzt

Katastrophen, Krisen und die Herausforderungen der Zukunft stellen das Gesundheitswesen vor schwierige Aufgaben. Der Reformbedarf ist groß. Die damit verbundenen Chancen sind es auch.

Schon vor der Corona-Pandemie war das Gesundheitssystem in Deutschland mit einer Vielzahl von Baustellen konfrontiert: Der Fachkräftemangel in der Pflege spitzt sich aufgrund der schnell alternden Bevölkerung seit Jahren zu. Der demografische Wandel, aber auch die Zunahme von Volkskrankheiten wie Diabetes treiben die Nachfrage nach Versorgungsleistungen in die Höhe. Die Gesundheitsausgaben steigen von Jahr zu Jahr und werden dem GKV-Schätzerkreis zufolge 2024 mit 314 Milliarden Euro eine neue Rekordmarke erreichen. Zusätzlich zu den eigenen Problemen muss das Gesundheitssystem zunehmend die Folgen von Krisen bewältigen, deren Ursachen außerhalb seiner Grenzen liegen: »SARS-CoV-2-Pandemie, Krieg gegen die Ukraine, Hochwasser, Waldbrände und Hitzewellen als Folgen des Klimawandels, unterbrochene Lieferketten, Energieknappheit: Selten wurde unser Land nahezu gleichzeitig von so vielen weitreichenden Krisen herausgefordert. Diese und andere Herausforderungen betreffen immer auch die Gesundheit der Menschen und ihre Versorgung«, schrieb der Sachverständigenrat Gesundheit & Pflege (SVR) in seinem 2023 veröffentlichten Gutachten Resilienz im Gesundheitswesen. Der damalige SVR-Vorsitzende, Ferdinand Gerlach, warnte: »Die bisherige Selbstwahrnehmung, dass in Deutschland alles gut organisiert ist und wir angesichts eines ausdifferenzierten Rettungs- und Gesundheitssystems bestens auch auf unvorhergesehene Entwicklungen vorbereitet sind, war und ist trügerisch.«

Die Zuversicht schwindet

Angesichts überfüllter Notaufnahmen, langer Wartezeiten auf Facharzttermine, einem mangelnden Angebot an Pflegeheimplätzen, einer schleppenden Digitalisierung und explodierender Kosten kommt offenbar immer mehr Menschen im Lande die Zuversicht abhanden. 2022 ergab eine gemeinsame Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Universität Bonn: Nicht einmal jeder Fünfte erwartet, dass die Zukunft Verbesserungen mit sich bringen wird. In den 1970erJahren glaubten das noch 90%. Dieser Pessimismus erstreckt sich auch auf die Gesundheitsversorgung. Im Healthcare-Barometer 2024 der Unternehmensberatung PwC spiegelt sich eine wachsende Verunsicherung wider. Besonders große Sorgen machen den Befragten der Fachkräftemangel, die Versorgungsqualität und die Sicherung der Versorgung im ländlichen Raum. Auch der Glaube an die Wirksamkeit von Reformen schwindet.

Der Soziologe Steffen Mau konstatiert, ein großer Teil der Bevölkerung sei »veränderungserschöpft«. Das hat auch Folgen für die Reformfähigkeit im Lande. Der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Moritz Schularick, meldet im Interview mit dem SPIEGEL grundsätzliche Zweifel an der Erneuerungsfähigkeit im Lande an: »Wir sind gefangen in kleinteiligen Abwehrkämpfen, Zweifeln, Sorgen und Ängsten – wir sehen nicht die Chancen, sondern diskutieren nur die Kosten und die Schwierigkeiten.« Das betrifft – zumindest in Teilen – auch das Gesundheitswesen. Aus den aktuellen Krisen seien bislang nicht die notwendigen Schlüsse gezogen worden, mahnten die Verfasser des SVR-Gutachtens 2023.

Illustration einer Druckpresse mit medizinischen Symbolen
Illustration © Jens Bonnke

Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite zählt das hiesige Gesundheitswesen allen Unkenrufen zum Trotz nach wie vor zu den leistungsstärksten der Welt. Damit das so bleibt, wurden und werden viele lösungsorientierte Ansätze entwickelt, um den vielfältigen Herausforderungen zu begegnen und die medizinische und pflegerische Versorgung der Patientinnen und Patienten zu verbessern und zukunftsfest zu machen. Auf der politischen Agenda stehen unter anderem ein umfassender Umbau der Krankenhauslandschaft und eine Entlastung der Notfallversorgung. Das geplante neue Pflegekompetenzgesetz soll die Pflegeberufe attraktiver machen und die Qualität der Versorgung verbessern.

Der Umbau hat längst begonnen

Eine Reform der gesetzlichen Pflegeversicherung wurde bereits auf den Weg gebracht. »Wir investieren künftig rund fünf Milliarden Euro pro Jahr, um die Pflege zu Hause zu erleichtern und um bei Heimkosten zu helfen«, kündigte Gesundheitsminister Karl Lauterbach an. »Mit dem E-Rezept starten wir die Aufholjagd in der Digitalisierung.« Die digitale Transformation des Gesundheitswesens ist von zentraler Bedeutung für seine Zukunftsfähigkeit. Künstliche Intelligenz unterstützt schon jetzt bei der Diagnostik; die elektronische Gesundheitskarte, elektronische Patientenakte und das E-Rezept sollen Abläufe verschlanken, den Informationsaustausch und die Patientensicherheit verbessern. Telemedizinische Angebote erleichtern die Versorgung, nicht nur im ländlichen Raum. Die Medizinischen Dienste setzen bei der Einschätzung der Pflegebedürftigkeit künftig in bestimmten Fällen Videobegutachtungen ein und stellen so trotz steigender Antragszahlen und Fachkräftemangel einen zeitnahen Zugang zu Leistungen sicher. Die Lebenserwartung steigt – um gesund alt zu werden, wird Prävention immer wichtiger. Das 2023 gegründete Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM) soll die öffentliche Gesundheit stärken, die Lebensqualität der Menschen steigern und Kosten im Gesundheits- und Sozialsystem reduzieren. Damit alte Menschen möglichst lange in ihrer vertrauten Umgebung leben können, werden innovative Versorgungsmodelle wie zum Beispiel Quartierskonzepte in der Pflege aufgelegt. Zudem entstehen neue Berufsbilder: Speziell qualifizierte Pflegefachkräfte wie Community Health Nurses verbessern die Gesundheitsversorgung vor Ort, Physician Assistants übernehmen delegierbare Aufgaben und entlasten Ärztinnen und Ärzte.

Die Bürgerinnen und Bürger sind für solche Neuerungen nicht nur aufgeschlossen, sie halten sie für dringend nötig: Bei einer Umfrage im Auftrag der Bertelsmann Stiftung im April 2023 bescheinigten 91% der Befragten dem Gesundheitswesen einen grundlegenden Reformbedarf. Mehr als die Hälfte (55%) meinte, die Gesundheitsversorgung habe sich in den letzten zehn Jahren verschlechtert. Um diesen Trend umzukehren, sind viele bereit, für eine gute Behandlungsqualität weitere Wege in Kauf zu nehmen und sich auf Innovationen wie digitale Gesundheitsanwendungen oder Videosprechstunden einzulassen. Doch nicht nur das: Zunehmend mehr Menschen engagieren sich ehrenamtlich und unterstützen diejenigen, die alt, krank und pflegebedürftig sind, im Alltag.

Mehr Mut zur Veränderung tut not

Bundeskanzler Olaf Scholz hat im März dieses Jahr einen ExpertInnenrat Gesundheit und Resilienz berufen, der die Bundesregierung bei aktuellen Fragen rund um die öffentliche Gesundheit, auch und gerade im Hinblick auf künftige Krisen, berät. Außer Expertise braucht es für einen zukunftsfesten Umbau des Gesundheitssystems vor allem eins: mehr Mut zur Veränderung. »Ziel ist es nicht nur, den Status quo zu erhalten, sondern wenn möglich sogar gestärkt aus Krisen hervorzugehen, sodass der Aufbau resilienter Strukturen nicht nur als anstrengende Aufgabe, sondern auch und vor allem als Chance zu verstehen ist«, betont der SVR in seinem Resilienz-Gutachten. Einen solchen chancenorientierten Blick auf gegenwärtige und kommende Krisen empfehlen auch die Sozialforscher Oliver Ibert und Tjorven Harmsen: »Bei aller Bedrohlichkeit« böten Krisen »immer auch Gelegenheiten zur Verbesserung.«

Der schwedische Arzt und Epidemiologe Hans Rosling vertrat die Ansicht, die Welt sei weit weniger schlecht als wir annehmen, und plädierte zeit seines Lebens für einen faktenbasierten Optimismus. Seine Empfehlung: die vorhandenen Fortschritte bewusst wertschätzen und daraus die Zuversicht für weitere Verbesserungen schöpfen. Denn wer positive Trends ignoriere und an einer pessimistischen, dramatisierenden Weltsicht festhalte, habe nicht nur schlechtere Laune, so die Überzeugung des Gesundheitsforschers. Viel schlimmer noch: Er verpasse auch Chancen.

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