Patientensicherheit: Risiken erkennen, Fehler verhindern

Von Dr. Charlotte Hölscher Lesezeit 4 Minuten
Altes Haus mit falsch eingebautem Fenster.

Die Medizinischen Dienste haben im vergangenen Jahr Gutachten zu 12.438 Behandlungsfehler-Verdachtsfällen erstellt. In jedem vierten Fall stellten die Gutachtenden einen Behandlungsfehler fest, durch den Patientinnen und Patienten zu Schaden gekommen sind. In jedem fünften Fall war der Fehler ursächlich für den erlittenen Schaden. Die Ergebnisse ähneln denen der Vorjahre.

Die Patientensicherheit ist ein zentraler Aspekt der Versorgungsqualität im Gesundheitswesen. Der Begriff umfasst alle Maßnahmen und Strategien, die darauf abzielen, das Risiko von Fehlern und Schäden während der medizinischen Versorgung zu minimieren. Vor diesem Hintergrund kann die Bedeutung der Patientensicherheit gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, hängt sie doch unmittelbar mit dem Wohlergehen der Patientinnen und Patienten und dem Vertrauen der Versicherten, aber auch der Beschäftigten in das Gesundheitssystem zusammen.

Sicherheitskultur prägen

Eine hohe Versorgungsqualität zeichnet sich nicht nur durch die Effektivität der Behandlungen aus, sondern auch durch die Abwesenheit unerwünschter Zwischenfälle bei Patientinnen und Patienten während der gesamten Versorgungskette. Dazu tragen unter anderem präventive Maßnahmen zur Vermeidung von Infektionen, der sichere Umgang mit Medikamenten sowie die korrekte Anwendung medizinischer Geräte bei. Fehler in diesen Bereichen können schwerwiegende Folgen haben und führen nicht selten zu vermeidbaren Schäden wie beispielsweise Krankenhausaufenthalten, dauerhaften gesundheitlichen Einschränkungen oder sogar zum Tod. Ein Gesundheitswesen, das die Sicherheit der Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt rückt, strebt daher nach einer kontinuierlichen Verbesserung seiner Prozesse und nach einer Kultur, in der das Lernen aus Fehlern gefördert wird (›No blame‹).

Aktuelle Zahlen

Zum dreizehnten Mal haben die Medizinischen Dienste die Jahresstatistik zur Behandlungsfehler-Begutachtung vorgelegt. Demnach wurden im Jahr 2023 insgesamt 12 438 fachärztliche Gutachten im Auftrag der gesetzlichen Krankenkassen zu vermuteten Behandlungsfehlern erstellt. Die Ergebnisse der Begutachtungen ähneln denen der Vorjahre: In 3.160 Fällen (25%) wurden ein Fehler und ein Schaden festgestellt. In 2.679 Fällen, also in jedem fünften Fall, wurde gutachterlich bestätigt, dass der festgestellte Fehler auch die Ursache für den entstandenen Schaden war. Letzteres ermöglicht es den Betroffenen, weitere zivilrechtliche Schritte zu unternehmen und etwaige Schadensersatzansprüche geltend zu machen.

Da Fehler im Behandlungsverlauf für Betroffene vor allem dort gut erkennbar sind, wo eine Operation oder ein Eingriff nicht das gewünschte Ergebnis erzielt hat, sind die operativen/ interventionellen Fachgebiete (zum Beispiel Orthopädie und Unfallchirurgie) besonders häufig von einem Behandlungsfehler-­Vorwurf betroffen. Dies deutet jedoch nicht auf eine größere Fehleranfälligkeit in bestimmten Bereichen hin, sondern spiegelt letztendlich nur das jeweilige Informationsgefälle in der Arzt-Patienten-Beziehung wider. Ein Drittel der Vorwürfe bezieht sich auf den ambulanten Sektor, zwei Drittel entfallen auf den stationären Sektor. Auch dieses Verhältnis bildet sich seit Jahren in ähnlicher Weise ab.

Auch in Bezug auf die Schadensschwere bleiben die Relationen im Vergleich zu den Vorjahren relativ konstant. Etwa zwei Drittel der Schäden waren vorübergehender Art, machten jedoch eine Intervention oder einen (verlängerten) Krankenhausaufenthalt notwendig. In einem Drittel der Fälle kam es zu einer dauerhaften Schädigung. Die Statistik des Medizinischen Dienstes erfasst hier die gesundheitlichen Konsequenzen für die Betroffenen, die wirtschaftlichen Auswirkungen des Fehlers bleiben unberücksichtigt.

Nur ein kleiner Ausschnitt

Fest steht: Die alljährlich veröffentlichten Zahlen der Medizinischen Dienste stellen nur einen kleinen Ausschnitt des Fehlergeschehens im Gesundheitswesen dar. Wie viele patientensicherheitsrelevante Ereignisse tatsächlich geschehen, kann nur geschätzt werden. Epidemiologische Studien gehen davon aus, dass es in etwa einem Prozent aller stationären Behandlungen zu Fehlern und vermeidbaren Schäden kommt. Das bedeutet, dass jedes Jahr 168.000 Patientinnen und Patienten in Kliniken von einem Behandlungsfehler betroffen sind. Fachleute vermuten, dass es jedes Jahr ca.17.000 fehlerbedingte, vermeidbare Todesfälle in unseren Krankenhäusern gibt.

Und nur etwa 3% aller Schadensfälle werden nachverfolgt. Viele Betroffene erfahren nie, dass es während ihrer Behandlung zu einem unerwünschten Zwischenfall gekommen ist; zumal die behandelnden Ärztinnen und Ärzte auch nur auf Nachfrage oder zur Abwendung zukünftiger gesundheitlicher Risiken darüber informieren müssen.

Faktor Mensch als Risiko und Chance

Um einen reibungslosen Ablauf im zunehmend komplexer werdenden Gesundheitssystem sicherzustellen, bedarf es einer funktionierenden interdisziplinären Zusammenarbeit. Die effektive Kommunikation zwischen Ärztinnen, Ärzten, Pflegepersonal und anderen Beteiligten ist entscheidend, um Risiken frühzeitig zu erkennen und zu beheben. Da sich medizinisches Wissen und Techniken stetig weiterentwickeln, spielt auch die Schulung des Personals eine Schlüsselrolle. Hierzu zählen regelmäßige Trainings und die Etablierung von Sicherheitsprotokollen, die sicherstellen, dass gängige Standards eingehalten werden.

Medizinische Einrichtungen gehören zu Hochrisiko-­Organisationen – deshalb müssen besonders strenge Sicherheitsvorkehrungen gelten. Sind diese unwirksam oder fehlen sogar ganz, steigt das Risiko schwerwiegender unerwünschter Zwischenfälle.

Schwere Folgen, leicht zu vermeiden

In der Jahresstatistik der Medizinischen Dienste zeigen sich derartige Ereignisse vorrangig bei den ›Never Events‹. Gemeint sind potenziell folgenschwere Ereignisse, die zum einen klar definiert sind und die darüber hinaus mit relativ einfachen Maßnahmen zu vermeiden wären. Allein 39 Fälle von Fremdkörpern (zum Beispiel Tupfer), die nach einer OP unbeabsichtigt im Körper des Patienten verblieben waren, zählten die Gutachterinnen und Gutachter der Medizinischen Dienste 2023 – obwohl in Krankenhäusern mit den sogenannten Zählprotokollen ein verlässliches und relativ niedrigschwelliges Kontrollinstrument zur Vermeidung solcher Zwischenfälle existiert.

Die Medizinischen Dienste fordern daher seit langem eine Meldepflicht für Never Events. Durch eine bundesweite verpflichtende Erfassung dieser Ereignisse würden erstmals valide Daten zur Häufigkeit des Auftretens vermeidbarer Schadensfälle erhoben und zudem die Entwicklung geeigneter Sicherheitsbarrieren befördert. Vergleichbare Beispiele aus dem Arbeitsschutz oder der Verkehrssicherheit zeigen, dass Meldepflichten eine wesentliche Rolle für die Entwicklung wirksamer und punktgenauer Präventionsmaßnahmen spielen können.

Digitalisierung und Patientensicherheit

Auch die Digitalisierung bietet das Potenzial, die Patientensicherheit spürbar zu verbessern. Elektronische Patientenakten und digitale Überwachungssysteme zum Beispiel ermöglichen eine lückenlose Dokumentation und können frühzeitig warnen, wenn sich ein nachteiliger Verlauf abzeichnet. Intelligente Medikationssysteme können beispielsweise erkennen, wenn bei der Verordnung eines neuen Arzneimittels eine bestehende Allergie missachtet oder eine gefährliche Wechselwirkung mit einem anderen Präparat übersehen wird. Bei allen Vorteilen müssen datenschutzrechtliche Risiken berücksichtigt und der Verlust oder Missbrauch von Patientendaten verhindert werden. Umso mehr gilt auch der Schutz der sensiblen personenbezogenen Daten als wesentlicher Baustein der Patientensicherheit.

Fehler zu verhindern und in die Patientensicherheit zu investieren heißt, Patientinnen und Patienten vor vermeidbarem Schaden zu schützen, das Vertrauen in das Gesundheitssystem zu stärken und die Effizienz der medizinischen Versorgung zu fördern. Ein Gesundheitssystem, das die Patientensicherheit ernst nimmt, strebt kontinuierlich danach, Risiken zu minimieren und die Versorgungsqualität zum Wohle aller Patientinnen und Patienten zu optimieren.

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