Die Menschen in Deutschland leben immer länger. Damit steigt auch die Zahl der Pflegebedürftigen. Vor welchen Herausforderungen steht die Pflege angesichts von Fachkräftemangel und Milliardendefizit in der gesetzlichen
Pflegeversicherung?
Bessere Lebensverhältnisse, vor allem aber der medizinische Fortschritt sorgen dafür, dass immer mehr Menschen in Deutschland ein hohes Alter erreichen. Die Lebenserwartung ist seit den 1960er Jahren deutlich gestiegen. Heute geborene Mädchen werden im Durchschnitt elf Jahre älter als damals geborene Mädchen, bei den Jungen sind es sogar durchschnittlich zwölf Jahre. Die Babyboomer, also die geburtenstarken Jahrgänge, die zwischen 1955 und 1969 geboren sind, kommen ins Rentenalter (ab 67 Jahre) und dürfen sich im Schnitt auf 18 bis 21 weitere Lebensjahre freuen. Zugleich hat die Geburtenrate in den vergangenen Jahrzehnten stark abgenommen. Die Entwicklung führt dazu, dass der Anteil jüngerer Menschen an der Gesamtbevölkerung in Deutschland weiter abnimmt, während der Anteil älterer Menschen wächst. So werden in den nächsten zehn Jahren mindestens 20 Mio. Menschen hierzulande das Rentenalter erreicht haben. In den 2050er und 2060er Jahren werden zwischen 7 und 10 Mio. Menschen älter als 80 Jahre sein, so die Prognose der fünfzehnten koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes.
Mehr Pflegebedürftige, weniger Pflegende
Da mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden, steigt, wird es zunehmend mehr pflegebedürftige Menschen geben. Diesen stehen künftig jedoch immer weniger jüngere Menschen gegenüber, die die Pflege übernehmen können und die Pflegeversicherung mit ihren Beiträgen (und denen ihrer Arbeitgeber) finanzieren. Prognosen zufolge wird der Bedarf an erwerbstätigen Pflegekräften von 1,62 Mio. im Vor-Corona-Jahr 2019 bis zum Jahr 2049 voraussichtlich um ein Drittel (33%) auf 2,15 Mio. steigen, sodass dann zwischen 280.000 und 690.000 Pflegekräfte in der Versorgung fehlen.
Auch der finanzielle Druck ist groß. Die soziale Pflegeversicherung hat das Jahr 2024 mit einem Defizit in Höhe von 1,54 Mrd. Euro abgeschlossen. Obwohl der Gesetzgeber zum Jahresanfang den Beitragssatz um 0,2 Prozentpunkte angehoben hat, rechnet der GKV-Spitzenverband bis zum Jahresende mit einem Minus von rund 160 Mio. Euro. Um die Finanzsituation kurzfristig zu stabilisieren, stellt der Bund der sozialen Pflegeversicherung in den Jahren 2025 und 2026 zwei nicht zu verzinsende Darlehen zur Verfügung. Die gesetzlichen Kranken-/Pflegekassen mahnen eine nachhaltige finanzielle Stabilisierung der Pflegeversicherung an. Als ersten Schritt forderte ein breites Bündnis verschiedener Kassenverbände bereits im September 2024 eine Refinanzierung der pandemiebedingten Kosten in Höhe von 5,5 Mrd. Euro sowie die steuerliche Gegenfinanzierung der Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige.
Perspektiven für die Pflege
»Die Pflege steht angesichts der demografischen Entwicklung vor großen Herausforderungen – nicht nur hinsichtlich der finanziellen und personellen Ressourcen – sondern auch hinsichtlich der Strukturen, die es zu reformieren gilt«, mahnt Carola Engler, Stellvertretende Vorstandsvorsitzende des Medizinischen Dienstes Bund. Der Medizinische Dienst bereitet sich bereits intensiv auf die weiter wachsenden Anforderungen vor. Im Jahr 2024 erhielten rund 5,6 Mio. Menschen Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung – rund doppelt so viele wie zehn Jahre zuvor. Auch die Zahl der Pflegebegutachtungen hat sich im gleichen Zeitraum verdoppelt und lag 2024 bei rund 3 Mio. Um dieser Aufgabe auch künftig gerecht werden und den Versicherten eine möglichst bedarfsgerechte und zeitnahe Versorgungsplanung zu ermöglichen, arbeitet der Medizinische Dienst in verschiedenen Modellprojekten mit wissenschaftlicher Unterstützung an einer Weiterentwicklung der Pflegebegutachtung. Zugleich fordert er mehr Flexibilität und Entscheidungsfreiheit in der täglichen Begutachtung sowie eine intensivere Vernetzung mit Pflegekassen und regionalen Pflegeberatungen.
Eine zentrale Herausforderung wird es sein, die Finanzierung der Pflege nachhaltig zu sichern, die Kosten für die Pflegebedürftigen zu senken und die Eigenanteile zu begrenzen.
Steigende Ausgaben, mehr Pflegebedürftige, weniger professionelle Pflegekräfte, weniger pflegende An- und Zugehörige – die Pflege zukunftsfest zu machen, ist eine gewaltige Aufgabe. Eine zentrale Herausforderung wird es sein, die Finanzierung der Pflege nachhaltig zu sichern, die Kosten für die Pflegebedürftigen zu senken und die Eigenanteile zu begrenzen. Mitte 2024 hat eine interministerielle Arbeitsgruppe unter Leitung des damaligen Bundesgesundheitsministeriums einen Bericht ›Zukunftssichere Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung‹ vorgelegt, der unterschiedliche Handlungsoptionen beschreibt.
Mehr Unterstützung für Angehörige
Etwa neun von zehn Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt, überwiegend von Angehörigen. Diese brauchen mehr Unterstützung, um diese Aufgabe weiter bewältigen zu können: mehr Beratung und Qualifizierung, einen einfacheren, unbürokratischen Zugang zu Leistungen, eine bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf und stabile nachbarschaftliche, kommunale und ehrenamtliche Netzwerke, die sie unterstützen und entlasten. Ein möglicher Ansatz dafür ist der Aufbau sogenannter Caring Communities: sorgende Gemeinschaften im Quartier oder der Kommune, die gemeinsam mit professionellen Akteuren die Versorgung und Teilhabe von Pflegebedürftigen sicherstellen. Größere Handlungsspielräume für die Kommunen könnten die Schaffung pflegefreundlicher Sozialräume unterstützen. Der Mangel an Pflegefachkräften führt schon jetzt dazu, dass stationäre Pflegeeinrichtungen ganze Abteilungen schließen müssen. Das verknappt das Angebot an Pflegeplätzen und kann für die Einrichtungen existenzgefährdend werden. Um die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern und den Pflegeberuf attraktiver zu machen, wurde ab 2018 im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege ein umfangreiches Maßnahmenpaket erarbeitet und verabschiedet. Neben Verbesserungen bei der Bezahlung und den Arbeitsbedingungen wurde auch beschlossen, den Pflegepersonen mehr Verantwortung zu übertragen und den Beruf so attraktiver zu machen. Der vorerst jüngste Anlauf in dieser Richtung ist das Gesetz zur Befugniserweiterung und Entbürokratisierung in der Pflege, das derzeit das Gesetzgebungsverfahren durchläuft und Anfang 2026 in Kraft treten soll. Es sieht unter anderem vor, dass Pflegepersonen selbstständig mehr heilkundliche Aufgaben in der Versorgung übernehmen können. Durch eine beschleunigte Digitalisierung könnte die Pflege zudem von administrativen und bürokratischen Aufgaben entlastet werden.
Prävention fördern
Ein weiteres wichtiges Handlungsfeld ist die Prävention und Gesundheitsförderung: Wer länger gesund ist, muss erst später gepflegt werden. Während die Generation der Babyboomer deutlich gesünder alterte als die Generationen vor ihnen, sieht es bei den später Geborenen weniger rosig aus: Sie werden wieder früher und häufiger krank, ergab eine Studie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Viele Erkrankungen, die häufig zu einer Pflegebedürftigkeit führen, könnten durch einen gesundheitsförderlichen Lebensstil, etwa den Verzicht auf Rauchen und Alkohol sowie eine gesunde Ernährung, verhindert werden. Dazu zählen zum Beispiel Herz-Kreislauf- und schwere Atemwegserkrankungen.
Angesichts der vielfältigen Herausforderungen hat die Bundesregierung einen ›Herbst der Reformen‹ angekündigt. Bereits Anfang Juli tagte erstmalig die Bund-Länder-Arbeitsgruppe ›Zukunftspakt Pflege‹, die bis zum Ende dieses Jahres umsetzungsfähige Eckpunkte für eine anschließende große Pflegereform vorlegen soll. Denn: »Eine grundsätzliche Reform der Pflegeversicherung ist dringend notwendig«, erklärte Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) dem Deutschen Ärzteblatt zufolge. »Wir brauchen keine Reförmchen, sondern eine Reform. Und wir brauchen schnelle Ergebnisse.«