Immer wieder bringen Menschen ihren Körper an den äußersten Rand der Belastungsgrenze. Was macht das mit dem Körper?
So schnell wie sie war keine: Die US-Amerikanerin Sydney McLaughlin-Levrone lief bei den Olympischen Spielen in Paris den 400-Meter-Hürdenlauf in 50,37 Sekunden. Damit hält sie den Weltrekord bei den Frauen. So hoch wie er sprang keiner: Der Schwede Armand Duplantis übersprang eine Latte in 6,25 Meter Höhe. Das ist Weltrekord im Stabhochsprung bei den Männern. Schneller, höher, weiter – so lautet seit Jahrtausenden das Motto bei Sportwettbewerben jeder Art. Egal ob Boote gerudert, Speere geworfen, Tore geschossen oder Becken durchschwommen werden, immer geht es um das eine: Beste oder Bester werden.
Damit das gelingt, gehen Menschen bis an den äußersten Rand ihrer persönlichen Belastungsgrenzen. Manch einer braucht dafür nicht mal einen Wettkampf zur Motivation. Es genügt mitunter die Smartwatch am Handgelenk, die einen stetig antreibt. Mehr Schritte, mehr Tempo, mehr Training. Sich immer wieder zu Höchstleistungen bringen, wieder und wieder das Maximum rauszuholen – kann das gesund sein? Erschöpft, verbraucht das nicht den Körper und seine Ressourcen? Machen wir uns mit damit vielleicht sogar kaputt?
Das Herz wächst mit der Belastung
»Diese Frage ist über 100 Jahre alt«, sagt Peter Deibert, Ärztlicher Leiter des Instituts für Bewegungs- und Arbeitsmedizin am Universitätsklinikum Freiburg, »und inzwischen stark erforscht worden.« Unter anderem in Freiburg. Hier hat sich der Sportkardiologe Herbert Reindell seit den 1940er Jahren intensiv mit den Auswirkungen des Sports auf die Gesundheit beschäftigt und den Begriff des Sportherzens maßgeblich mit geprägt. Schon früh hatte man festgestellt, dass die Herzen von Leistungssportlern größer waren als die der Normalbevölkerung. »Das galt noch bis in die 60er Jahre hinein als Zeichen einer möglichen Herzschwäche und wurde als potenzielle Schädigung des Organs gewertet«, erzählt Deibert. Erst nach und nach fanden Sportmediziner wie Reindell heraus, dass es sich nicht um eine krankhafte, sondern um eine strukturelle Vergrößerung handelte. Bei chronischem Ausdauertraining passte das Herz sich dem Bedarf an und wuchs.
Auch die Entdeckung von Troponin schürte den Verdacht, dass »zu viel Sport doch schädlich sei«. Der Proteinkomplex kann, wenn er erhöht im Blut festgestellt wird, auf einen Herzmuskelschaden hindeuten. Nach einem Herzinfarkt sind die Troponinwerte in der Regel deutlich erhöht. Auch bei zahlreichen Marathonläufern und Triathleten hat man hohe Troponinwerte gesehen und das mit einer möglichen Herzschädigung durch zu viel Belastung in Verbindung gebracht. »Heute weiß man, dass durch die Belastung beim Sport zwar Troponin freigesetzt wird, die Werte sinken nach der Belastung allerdings auch schnell wieder und es gibt keine Hinweise darauf, dass dadurch Zellen absterben«, sagt Deibert.
Der Körper reagiert also auf intensiven Sport, so viel steht fest. Tut das aber auch auf Dauer gut? Sind Spitzensportlerinnen und Spitzensportler vielleicht früher körperlich kaputt als die Normalbevölkerung? Mehrfach haben Studien beispielsweise mit Weltmeistern, Olympiagewinnerinnen oder Tour-deFrance-Teilnehmenden gezeigt, dass dem nicht so ist: Topathletinnen und Topathleten leben länger als weniger sportliche Altersgenossen. »Der Unterschied ist mehr als deutlich«, sagt Deibert, »selbst wenn man solche Faktoren herausrechnet wie die Tatsache, dass Leistungssportler sich viel bewusster ernähren und meist einen besseren, schnelleren Zugang zu medizinischer Versorgung haben, bleibt unterm Strich ganz klar: Sport nutzt. Die Mortalität halbiert sich in etwa, wenn man intensiven Sport treibt.«
Ein rauschhaftes Gefühl treibt an
Intensive Belastung – was passiert da eigentlich? Dass wir überhaupt an unserem persönlichen Limit kratzen, es sogar immer weiter verschieben können, haben wir Hormonen und Botenstoffen zu verdanken. Allen voran Adrenalin. Dieses körpereigene Hormon wird in stressigen und gefährlichen Situationen von den Nebennieren ausgeschüttet, also dann, wenn wir punktgenau alles geben müssen. Dann pumpt das Herz schneller, der Blutdruck steigt. Die Bronchien weiten sich, so dass wir tief Luft holen können. Alles, was an Energiereserven da ist, wird mobilisiert und geht ins Herz und die für die Tätigkeit wichtige Muskulatur. Muskeln, die nicht benötigt werden, entspannen sich, die Verdauung pausiert, Schmerzen sind kaum wahrnehmbar. Wir sind hochkonzentriert und powern uns auf das höchste Level, vielleicht auch ein Stück darüber hinaus. Diesen Ausnahmezustand kann der Körper jedoch nur kurze Zeit halten – das Adrenalin wird recht zügig wieder abgebaut. Dass wir den Moment als berauschend empfinden, liegt daran, dass in diesen Belastungsspitzen auch die Neurotransmitter Endorphin und Dopamin ausgeschüttet werden. Sie sorgen für Glücksgefühle und machen es leichter, die Anstrengung zu ertragen. Deshalb wird man auch schnell süchtig nach diesem Kick. Das Wohlgefühl nach einer starken körperlichen Anstrengung ist es, was uns das nächste Mal wieder anspornt. Bei vielen Extremsportlern ist es genau dieser Kick, das rauschhafte Gefühl während der extremen Belastung, das sie immer weiter zu neuen Höchstleistungen antreibt.
Alle Studien zeigen aber auch: Es muss überhaupt gar kein Hochleistungssport sein, um von Sport profitieren zu können. »Eine sehr eindrückliche Studie dazu stammt aus den 1990er Jahren«, sagt Deibert, »der US-Amerikaner Stephen Blair und sein Team haben gezeigt, dass sich die Lebenserwartung besonders stark bei den Menschen positiv beeinflussen lässt, die sich nur ein bisschen oder gar nicht sportlich betätigen und dann anfangen, wenigstens ein klein wenig zu tun.«
Sport hält den Blutzucker unten
Die Hauptverantwortlichen für diese Effekte: sogenannte Myokine. Jedes Mal, wenn wir Sport treiben, schütten unsere Muskeln eine Menge dieser hormonähnlichen Botenstoffe aus. Sie gelangen ins Blut und von dort aus in den ganzen Körper, wo sie ihre Wirkung entfalten. Myokine fördern die Bildung neuer Abwehrzellen und wirken entzündungshemmend. Ein Myokin namens BDNF kann die Blut-Hirn-Schranke überwinden und im Gehirn verschiedene Prozesse unterstützen, die uns besser lernen und erinnern lassen. Wissenschaftler vermuten, dass dieses Myokin auch Einfluss auf Demenz und Depression haben könnte. Knochen, das weiß man schon, profitieren ebenfalls von Myokinen: Die hormonähnlichen Botenstoffe machen sie stabiler, indem sie die Neubildung von Knochenzellen anregen. Doch damit nicht genug: »Myokine wirken sich positiv auf das Herz-Kreislauf-System aus und helfen dabei, den Stoffwechsel zu regulieren«, sagt Wilhelm Bloch von der Deutschen Sporthochschule Köln. »Zudem haben einige Arbeiten klar gezeigt, dass sie bei der Vorbeugung von Krebserkrankungen eine Rolle spielen.« Rund 600 bis 800 solcher Myokine kennt die Wissenschaft bereits, längst nicht alle sind umfassend untersucht. Und vermutlich gibt es noch viel mehr. Herausgefunden haben die Fachleute bereits verschiedene Freisetzungsmechanismen bei unterschiedlichen Sportarten. Ausschlaggebend ist dabei die Intensität. Bei einem Krafttraining mit hoher, intensiver Belastung beispielsweise werden relativ schnell relativ viele Botenstoffe freigesetzt – die spezifischen Myokine sind im Blut nachweisbar. Bei Ausdauersport dauert es länger, bis die Ausschüttung aktiviert wird, dafür werden dann über einen längeren Zeitraum Myokine abgegeben.
»Ein wichtiger Schutzfaktor ist zudem die Insulinsensibilität, die sich verbessert oder erhalten bleibt, wenn man regelmäßig körperlich aktiv ist«, sagt Deibert. Die Muskelzellen nehmen dann vermehrt schädlichen Zucker aus dem Blut, es muss also weniger Insulin ausgeschüttet werden, um den Zucker aus dem Blut in Körperzellen einzuschleusen. »Niedrigere Insulinspiegel wiederum bedeuten ein geringeres Risiko für Krebserkrankungen und solche des Herzkreislaufsystems«, sagt Deibert. Er rät, sich dabei an den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO zu orientieren: 300 Minuten körperliche Aktivität pro Woche, bei intensiveren sportlichen Betätigungen reichen auch schon 150 Minuten. Und zusätzlich zweimal pro Woche ein Krafttraining. Die Anstrengung dabei darf durchaus am persönlichen Limit angesiedelt sein: »Das muss nicht so sein, dass ich mit hochrotem Kopf kaum noch atmen kann, aber ein gewisser Trainingsreiz durch die Belastung ist durchaus von Vorteil.«