Vom Ausland lernen

Von Gabi Stief Lesezeit 2 Minuten
Symbolbild: Frau und Mann auf einer Wippe. Die Frau ist fast transparent und scheint zu verschwinden.

Gesellschaft auf Rezept? In Finnland, England, den Niederlanden oder Australien hat man bereits lange vor der Covid-Pandemie die Brisanz des Problems Einsamkeit erkannt und ist aktiv geworden. Kann Deutschland vom Ausland lernen?

Reisen bildet. Das dachte man sich auch im Familienausschuss des Bundestags, als Anfang des Jahres erste Entwürfe für eine nationale Strategie gegen Einsamkeit zur Beratung auf dem Tisch lagen. Das Gremium beschloss, mit einer Delegation nach Helsinki zu reisen, in jenes Land, das bereits früh erkannt hat, dass Einsamkeit ungesund ist und die Gesellschaft etwas unternehmen muss. Besonders beeindruckt äußerte sich die Grüne Kordula Schulz-Asche nach der Reise über das Projekt ›Circle of Friends‹, das professionell geleitete Treffen einsamer alter Menschen organisiert, um lokale Freundeskreise landesweit zu etablieren. Die Teilnehmenden können wählen, ob sie sich in einer Gruppe lieber mit Kunst, Musik oder Theater beschäftigen, über Gesundheitsthemen diskutieren oder sportlich aktiv werden wollen. Evaluationen belegen den Erfolg des Modells; das Selbstbewusstsein und die Fähigkeit, eigenständig Beziehungen zu knüpfen, werden gestärkt und das eigene Wohlbefinden steigt.

Ein Schwätzchen an der Plauderkasse

Die Finnen waren nicht die ersten, die eine nationale Strategie gegen Einsamkeit beschlossen. Bereits 2014 verpflichtete die niederländische Regierung alle Kommunen, lokale Strategien für niedrigschwellige Angebote zu entwickeln, die sich nicht nur an alte Menschen richten. So lädt das digitale Projekt ›Join Us‹ 12- bis 30-Jährige auf seiner Internetseite zu einem Test ein, um herauszufinden, wie sie am besten neue Leute kennenlernen können. Es gibt zudem Online-Gruppen und E-Tools zum Trainieren sozialer Kompetenzen. Berühmt wurde auch die ›Kletskass‹ (›Plauderkasse‹) der niederländischen Supermarktkette Jumbo, die zu Beginn der Corona-Pandemie in vielen Filialen eingerichtet wurde und zum Schwätzchen beim Einkauf einlädt.

Einsamkeit ist die traurigste Realität des modernen Lebens

Großbritannien ist das erste Land, das sich nicht nur auf die Verabschiedung einer nationalen Strategie beschränkte. 2018 ernannte Premierministerin Theresa May die weltweit erste Einsamkeitsministerin. »Einsamkeit ist die traurigste Realität des modernen Lebens«, erklärte May. Depressive Einsamkeitsgefühle seien auch Grund für die sozialen Spannungen im Land. Eine der ersten Maßnahmen des Ministeriums war die Gründung eines 11,5 Millionen Pfund schweren Hilfsfonds zur Unterstützung von Projekten, die Menschen aus ihrer Einsamkeit holen.

Wohlfahrt schützt vor Einsamkeit

Eine wichtige Säule der britischen Strategie gegen Einsamkeit ist das Konzept der ›Sozialverschreibung‹ (Social Prescribing) im staatlichen Gesundheitssystem. Ärzte und Ärztinnen können ›Gesellschaft‹ verschreiben. Die Verordnung berechtigt zur Teilnahme an sozialen Aktivitäten zu geringen Beiträgen wie Wander-, Koch- oder Kunstgruppen. Die Ärzteschaft zweifelte anfangs am Nutzen. Mittlerweile ist Social Prescribing nicht mehr umstritten. Die Erkenntnis, dass Einsamkeit irgendwann krank macht, hat sich durchgesetzt.

Ein Vorbild für Deutschland? Schwierig. Experten wie Claus Wendt, Professor für Gesundheitssoziologie an der Universität Siegen, empfehlen da eher das finnische ›Circle of Friends‹-Programm oder den ›Nachbarschaftstag‹, der einmal im Jahr in Australien landesweit gefeiert wird. »Er erreicht viele Menschen, ist einfach übertragbar und mehrfach positiv evaluiert«, sagt Wendt. Der beste Schutz gegen Einsamkeit sei allerdings ein ausgebauter Wohlfahrtsstaat. Das hohe Niveau an sozialpolitischen Leistungen, ergänzt durch eine gut ausgebaute Vereinsstruktur und professionelle Schulprojekte sorgten dafür, dass Länder wie Dänemark und Schweden die niedrigsten Einsamkeitswerte in allen Altersgruppen, insbesondere bei Jüngeren, verzeichnen.

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