Gesetzlich Versicherte geben jedes Jahr viel Geld für Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) aus, die privat von ihnen zu zahlen sind. Weit verbreitet sind dabei IGeL im Bereich der Orthopädie.
In der alternden Gesellschaft florieren orthopädische Leistungen. Fast 400 Mio. Euro geben Versicherte jedes Jahr für orthopädische IGeL aus – mehr Geld für IGeL fließt nur noch in die Augenheilkunde und die Gynäkologie. Dabei zählen orthopädische IGeL zu den teuersten Selbstzahlerleistungen. Diese Ergebnisse aus dem IGeL-Report 2024 hat der IGeL-Monitor zum Anlass genommen, vier Methoden, die häufig als IGeL angeboten werden, unter die Lupe zu nehmen: Hyaluronsäure-Spritzen ins Knie- und ins Hüftgelenk sowie die Stoßwellentherapie bei Kalkschulter und Tennisarm. Das ernüchternde Fazit: viel Geld für (fast) keinen Nutzen – zwei dieser Leistungen können sogar erheblich schaden.
Hyaluronsäure-Injektionen bei Arthrose: erhöhtes Schadenspotenzial statt Nutzen
Arthrose, besonders in Knie und Hüfte, ist eine weit verbreitete Erkrankung – degenerativ, altersassoziiert und schmerzhaft. Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen eine Vielzahl verschiedener Behandlungen, um vor allem Schmerzen zu lindern und die Beweglichkeit zu verbessern.
Darüber hinaus bieten orthopädische Praxen Selbstzahlerleistungen wie Hyaluronsäure-Injektionen in den Gelenkspalt an. Die Hyaluronsäure, die auch natürlicherweise in der Gelenkflüssigkeit vorkommt, soll die Folgen des arthrosebedingten Abbaus von Gelenkknorpel mildern, indem sie fehlende Gelenkflüssigkeit ersetzt.
Allerdings zeigen seit Jahrzehnten etliche Studien an Abertausenden Teilnehmenden: Ein Vorteil für Patientinnen und Patienten ist entweder gar nicht nachzuweisen, so bei der Behandlung der Hüfte, oder tendiert – wie beim Knie – zum Bedeutungslosen. Anders das Risiko für Schäden, das nicht nur für harmlosere Nebenwirkungen wie vorübergehende Gelenkschmerzen oder Juckreiz an der Einstichstelle erhöht ist, sondern auch für schwerwiegende unerwünschte Ereignisse, z. B. Herzbeschwerden oder Gelenksinfektionen. »Von tausend Personen mit Kniegelenksarthrose erleiden bei einer Hyaluronsäure-Injektion 37 ein derartiges Ereignis gegenüber 25 bei einer Scheinbehandlung, also etwa 50% mehr«, berichtet Dr. Stefan Lange, seit April 2025 Leiter des Bereichs Evidenzbasierte Medizin beim Medizinischen Dienst Bund und in dieser Funktion verantwortlich für den IGeL-Monitor. Der IGeL-Monitor bewertete nach systematischer Aufbereitung der verfügbaren Evidenz diese Methoden mit ›negativ‹.
Stoßwellen gegen Kalkschulter und Tennisarm: Wirkmechanismus unklar
Eine ebenfalls weit verbreitete IGeL aus dem orthopädischen Bereich ist die Stoßwellentherapie. Der zugrunde liegende Wirkmechanismus ist bislang unklar. Die Schallwellen sollen Heilungsprozesse angegriffener Sehnen anstoßen, in der Schulter außerdem Kalkablagerungen auflösen. Die Behandlung kann unangenehm sein. Manchmal ist eine lokale Betäubung nötig, um sie auszuhalten.
Doch wie gut hilft die Stoßwellentherapie? Der IGeL-Monitor wollte wissen, ob die Stoßwellentherapie die Beschwerden von Personen mit einem Tennisarm oder einer Kalkschulter lindern kann. Dafür hat das Team die wissenschaftliche Literatur systematisch durchsucht und gründlich aufbereitet. Das Ergebnis: Es gibt keine verlässlichen Belege, dass diese Behandlungen Schmerzen lindern oder die Beweglichkeit verbessern. Immerhin scheinen sie neben vorübergehenden Schmerzen, Blutergüssen und Rötungen keine schlimmeren Nebenwirkungen zu haben. Die Studienlage lässt – anders als bei den Hyaluronsäure-Injektionen – zu wünschen übrig. Es gibt nur wenige Studien, die meisten sind sehr klein, viele von schlechter methodischer Qualität. »So entsteht ein fragmentiertes und uneinheitliches, teilweise widersprüchliches Bild«, fasst Lange die Evidenzlage zusammen. Entsprechend lautete die Bewertung des IGeL-Monitors jeweils »unklar«.
Wir brauchen keine Werbung, sondern wir brauchen Fakten in den Wartezimmern.
Was auffällt: Zu allen vier Indikationen fehlen klare Vorgaben der ärztlichen Selbstverwaltung. Die medizinische Leitlinie zur Kniearthrose schätzt die Datenlage als zu dünn ein, um eine Empfehlung für oder gegen die Behandlung auszusprechen. Die für die Kalkschulter einschlägige Leitlinie erwähnt die Stoßwellentherapie nicht. Für die Hüftarthrose und den Tennisarm fehlen gültige Leitlinien.
Zu viel Geld für unnütze und schädliche Behandlungen
Mit Praxis-TV und Info-Flyern werden IGeL häufig in ärztlichen Praxen beworben. Dabei wird oft außer Acht gelassen, dass die gesetzlichen Krankenkassen bei Arthrose, Kalkschulter und Tennisarm viele bewährte Maßnahmen übernehmen – etwa Physiotherapie, ergänzende Wärme-, Kälte- oder Elektrotherapie, Bewegungs- und Ernährungsempfehlungen sowie bei schweren Fällen Operationen. Hyaluronsäure-Spritzen und Stoßwellentherapien gehören nicht dazu, diese Methoden sind nach wissenschaftlichem Stand bei den genannten Indikationen unnütz bis schädlich – und teuer. Jede Behandlung umfasst mehrere Anwendungen. Bleibt der erwünschte Erfolg aus, wird eine Wiederholung empfohlen. Die Kosten für die Hyaluronsäure-Injektionen liegen für einen Behandlungszyklus zwischen 220 und 500 Euro, oft auch höher. Die Preise für die Stoßwellentherapie schwanken je nach Methode pro Behandlungszyklus zwischen 120 und 620 Euro.
Von fehlenden Informationen und Fehlinformationen
Viele – nicht nur orthopädische – Praxen informieren offenbar entgegen dem aktuellen Stand der ärztlichen Wissenschaft nicht sachgerecht über Vor- und Nachteile von Selbstzahlerleistungen. So führen Sorge und Unwissenheit der Patientinnen und Patienten dazu, dass sie teils fragwürdige Leistungen kaufen. Positive Erfahrungsberichte bestärken diese Haltung; ein bestehendes Vertrauensverhältnis zur Ärztin oder zum Arzt kann die Kaufentscheidung einer IGeL noch weiter begünstigen. Aussagen wie »Damit machen wir nur gute Erfahrungen« schaffen Vertrauen in die ärztliche Praxis und vermitteln Hoffnung, dass die Behandlung wirksam und sicher ist. Das hat nichts mit Evidenz zu tun. Evidenz ist die wissenschaftlich belegbare Grundlage für die Wirksamkeit und Sicherheit einer Behandlung, basierend auf überprüfbaren Daten aus Studien. Wenn auf diese Weise ein Nutzennachweis geführt wird, übernehmen die Krankenkassen die Behandlungskosten. Wenn klare Evidenz fehlt und das Ergebnis ›unklar‹ ist, ist der Nutzen nicht ausreichend belegt und Vorsicht geboten. Und wenn nachgewiesen ist, dass eine Leistung schädlich ist, sollte sie entsprechend dem Grundsatz ›Vor allem nicht schaden‹ nicht angewendet werden.
Versicherte mit seriösen Informationen stärken
Bei der Entscheidung für oder gegen eine IGeL fühlen sich viele Patientinnen und Patienten nicht ausreichend informiert. Stefan Gronemeyer, Vorstandsvorsitzender des Medizinischen Dienstes Bund, fordert daher eine verbindliche Verpflichtung für Praxen, zu angebotenen IGeL interessensunabhängige und evidenzbasierte Information bereitzustellen, die Nutzen und mögliche Schäden transparent und verständlich darstellen: »Wir brauchen keine Werbung, sondern wir brauchen Fakten in den Wartezimmern.« Außerdem sollen IGeL nicht am selben Tag erbracht werden dürfen, an dem sie angeboten werden. Denn IGeL sind nie so dringend, dass keine Zeit bliebe, in Ruhe das Für und Wider abzuwägen. Einen Ansatzpunkt für verbindliche Regelungen sieht Gronemeyer im Koalitionsvertrag: »Bei medizinischen Behandlungen stärken wir Patientinnen und Patienten gegenüber den Behandelnden.« In diesem Sinne plädierte Stefan Schwartze, Patientenbeauftragter der Bundesregierung, unlängst für eine Anpassung des Patientenrechtegesetzes, um Patientinnen und Patienten zu schützen: »Etliche IGeL sind nicht nur nicht sinnvoll, sondern gefährlich.
Infos zum IGeL-Monitor
Der IGeL-Monitor ist ein Informationsportal für Patientinnen und Patienten, das der Medizinische Dienst Bund betreibt. Unter www.igel-monitor.de erhalten Versicherte evidenzbasierte Bewertungen zu IGeL sowie viele weitere Informationen rund um das Thema. Für die Bewertung des möglichen Schadens und Nutzens einer IGeL recherchiert das Wissenschaftsteam in medizinischen Datenbanken und wertet diese systematisch aus. Versicherte erfahren im IGeL-Monitor auch, welche Leistungen von den gesetzlichen Krankenkassen bei Symptomen übernommen werden. Einmal im Monat bietet der IGeL-Monitor den IGeL-Podcast an. Darin dreht sich alles um IGeL-Themen: die Rechte der Patientinnen und Patienten, den stetig wachsenden IGeL-Markt, die Relevanz dieses Marktes für Versicherte, aber auch seine Bedeutung im Gesundheitssystem. Der Podcast ist auf allen relevanten Plattformen und unter www.igel-monitor.de zu hören.