West-Nil-, Chikungunya- oder Dengue-Fieber gelten als Tropenkrankheiten. Das Paradoxe: Es ist gut möglich, dass man sich schon jetzt oder in wenigen Jahren auch in Deutschland mit diesen Infektionen anstecken kann. Denn je wärmer das Klima wird, desto leichter haben es die Mücken und die in ihnen lebenden Viren, die diese Krankheiten übertragen. Was auf uns zukommt und was wir dagegen tun können, haben wir Prof. Dr. Jürgen May gefragt. May leitet das größte deutsche Tropeninstitut, das Bernhard-Nocht-Institut.
Was meint der Begriff ›Tropenkrankheiten‹?
Ursprünglich bezog sich der Begriff auf Gebiete zwischen dem nördlichen und südlichen Wendekreis, in denen sich aufgrund der meteorologischen Bedingungen bestimmte Infektionskrankheiten halten oder ausbreiten können. Häufig handelt es sich dabei um Krankheiten, die durch Stechmücken übertragen werden oder die bestimmte Tiere als Zwischenwirte benötigen.
Passt die Bezeichnung noch, wenn die Krankheiten, die unter diesen Begriff fallen, in Europa heimisch werden?
Nicht so ganz, denn es gibt klassische Tropenkrankheiten in Europa und im Mittelmeerraum und zugleich tropische Regionen wie Hawaii, die völlig frei von ihnen sind. Deshalb sprechen wir heute eher von armutsassoziierten Infektionskrankheiten. Die Malaria gehört zum Beispiel dazu. Die Krankheit wird erst dann zum Problem, wenn die Gesundheitssysteme nicht gut funktionieren, die Ausbreitung nicht wie bei uns überwacht werden kann und Diagnose und Behandlung zu spät kommen.
Welche Tropenkrankheiten sind heute für uns in Deutschland Anlass zur Sorge?
Virale Infektionen, die durch Stechmücken übertragen werden, sind wahrscheinlich die größte und am schnellsten sichtbar werdende Gefahr. Das West-Nil- Virus zum Beispiel ist in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen, ist jetzt in Brandenburg, Sachsen-Anhalt oder Berlin heimisch und wird nicht mehr verschwinden. Hauptwirt sind Vögel, die dem Virus helfen, sich schnell in andere Regionen auszubreiten. Das Chikungunya- Fieber tritt bereits in Italien und Spanien auf und kann sich bei steigenden Temperaturen auch bei uns ausbreiten. Und auch das Denguefieber steht vor der Tür.
Wie groß war diese Gefahr, als Sie anfingen, sich zu spezialisieren?
Als ich 1995 meine Doktorarbeit am Bernhard-Nocht-Institut schrieb, waren einige Mückenarten noch nicht großflächig nach Europa eingewandert, zum Beispiel die Asiatische Tigermücke. Bald warnten die Tropeninstitute, dass Infektionen wie Dengue und Chikungunya, die sie übertragen kann, bereits in Südeuropa angekommen waren. In den folgenden Jahren konnten wir beobachten, wie sich die Mücken und die von ihnen übertragenen Infektionskrankheiten immer weiter nach Norden ausbreiteten. Oft werden Warnungen vor einem gefährlichen, plötzlich auftretenden Ereignis wie einer Epidemie oder einer übertragbaren Infektion erst dann ernst genommen, wenn es tatsächlich eingetreten ist. Dann ist es meist zu spät, die Entwicklung umzukehren.
Wie gehen wir mit der Gefahr um?
Eine bewusste, aber auch entspannte Aufmerksamkeit wäre gut – wie bei allen anderen Infektionskrankheiten auch. Es gibt keinen Grund zur Panik, denn bei all diesen Infektionen haben die meisten Menschen keine oder nur leichte Symptome. Das Risiko, schwer zu erkranken, ist für den Einzelnen nicht sehr hoch. Bisher haben wir es beim West-Nil-Fieber mit ein paar Dutzend symptomatischen Infektionen zu tun, die sich Patienten lokal in Deutschland zugezogen haben. Aber das Problem kann sich relativ schnell ausbreiten. Wenn dann mehr Menschen schwer erkranken und im schlimmsten Fall lebenslange Behinderungen davontragen, wird das Bewusstsein wachsen, dass auch hier investiert werden muss.
Überrascht es Sie, dass so viele Tropenkrankheiten nun auch in Deutschland zum Problem werden?
Was mich am meisten überrascht, ist die Geschwindigkeit, mit der die Durchschnittstemperatur weltweit und auch hier in Deutschland steigt. Wir müssen uns also noch schneller darauf einstellen, dass sich diese Krankheiten bei uns ausbreiten. Die Situation ändert sich zusehends – nicht über Generationen hinweg, sondern in unserer Generation. Warum ist das so entscheidend für die Verbreitung von Tropenkrankheiten bei uns? Wenn wir in Deutschland regelmäßig zwei, drei Wochen hintereinander Temperaturen über einem bestimmten Grenzwert und mildere Winter haben, können sich plötzlich verschiedene Viren einnisten und die Mücken überwintern. So können sich Krankheiten von einem Jahr aufs andere etablieren. Es ist dann fast unmöglich, diese Infektionskrankheiten wieder loszuwerden. Es ist also nicht so, dass sich bei einem linearen Temperaturanstieg die Krankheiten linear ausbreiten – es sind eher Kipppunkte, die gerade überschritten werden.
Was sind – abgesehen von der Temperatur – die wichtigsten Treiber der Entwicklung?
Viele Faktoren spielen zusammen – einer davon ist die Mobilität. Wir können Infektionen über Flugrouten sehr schnell von A nach B überall auf der Welt transportieren. Dass eine infizierte Mücke zufällig irgendwo landet, passiert ständig und überall. In den meisten Fällen ist das für den Erreger eine Sackgasse, er kann sich nicht vermehren. Doch wenn die Umweltbedingungen günstig sind und weitere Ereignisse wie Überbevölkerung in den Städten, der Wälder, Monokulturen in der Landwirtschaft und Klimaveränderungen hinzukommen, ergibt sich ein Gesamtbild, das die Ausbreitung von Infektionen begünstigt.
Warum sind ausgerechnet die durch Mücken übertragenen Infektionskrankheiten für Deutschland so problematisch?
Auch lebensmittelbedingte Infektionen wie Salmonellen nehmen durch den Klimawandel zu. Aber wir haben in Deutschland gute Hygienevorschriften und können uns eine schnelle Überwachung der Lebensmittelketten leisten. So dämmen wir Infektionen wirksam ein. Bei Infektionen, die durch Mücken übertragen werden, ist das nicht so leicht möglich. Mücken kennen keine Grenzen. Man könnte sie nur großflächig ausrotten. Außerdem gibt es keine Medikamente gegen Infektionen, die von Mücken übertragen werden. Aber immerhin wird an Impfstoffen geforscht – das könnte eine gute Möglichkeit sein, das Problem in Zukunft in den Griff zu bekommen.
Mit welchen Ansätzen versuchen Sie am Bernhard-Nocht-Institut die sich verändernde Situation in Deutschland zu erfassen?
Am Bernhard-Nocht-Institut arbeiten zum Beispiel Entomologen, die Stechmücken unter dem Mikroskop bestimmen können, an einem Mückenatlas: Das Land wird in Raster eingeteilt und dann werden an definierten Stellen – zum Beispiel auf Friedhöfen, weil die gut vergleichbar sind – Stechmücken gesammelt. Auch gibt es Kooperationen mit Kollegen in der Rheinebene, wo viele dieser Überträger von Tropenkrankheiten zuerst aufgetaucht sind. Gleichzeitig untersuchen wir, inwieweit unsere heimischen Stechmücken unter hiesigen Bedingungen Viren aus den Tropen übertragen können.
Die Tigermücke ist bereits vielerorts in Baden-Württemberg heimisch geworden, in der Rheinebene sowie vereinzelt in Thüringen und Bayern. Wıe kann man sich schützen, wenn sie grassiert?
Repellentien – zum Beispiel Sprays zur Mückenabwehr – helfen, nicht gestochen zu werden. Wer nicht gestochen wird, erkrankt auch nicht. Auch Impfungen können sinnvoll sein – gegen Dengue gibt es inzwischen zwei Impfstoffe. Sollte sich die Krankheit auch bei uns ausbreiten, wird es sicher auch Impfempfehlungen für bestimmte Risikopatienten geben. Irgendwann wird es wahrscheinlich auch bei uns mehr Empfehlungen geben, wie es sie in Städten wie Singapur schon gibt – Wassertanks abdecken, keine Brutstätten zulassen. Und wenn man Fieber hat, sollte man zum Arzt gehen.
Was muss in Zukunft getan werden, um einen Ausbruch von Tropenkrankheiten zu verhindern?
Wir müssen Programme zur Kontrolle von Überträgern wie Mücken besser erforschen. Wir brauchen Maßnahmen, die nur auf bestimmte Überträger abzielen und nicht alle Insekten schädigen. Denn das schadet im schlimmsten Fall den Tieren, die sich von den Mücken ernähren. Wir brauchen auch bessere Frühwarnsysteme. Sie müssen Behörden und Bevölkerung zuverlässig warnen können, wenn zum Beispiel die Tigermücke in einer bestimmten Region vermehrt auftritt. Und es ist wichtig zu erkennen, dass der Klimawandel zu einer Zunahme bestimmter Infektionskrankheiten führt. Wir müssen auch etwas gegen den Klimawandel tun, um Infektionen zu verhindern.