In Deutschland sind 17 Millionen Menschen von Armut bedroht, deutlich mehr als vor der Corona-Pandemie. Wer arm ist, hat nicht nur ein höheres Risiko, krank zu werden, sondern oft auch eine kürzere Lebenserwartung.
Die »voranschreitende Polarisierung im Gesundheitssystem« und zunehmende soziale Spaltung müssen dringend durch Reformen gestoppt werden, forderten zahlreiche Wissenschaftler und Public-Health-Experten mit dem Bielefelder Memorandum zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit bereits 2006. Die Wahrscheinlichkeit, zu erkranken und früh zu sterben, sei in den unteren Sozialschichten überdurchschnittlich hoch, schrieben sie. Dies belaste die Gesundheitssysteme übermäßig, unter anderem durch hohe Behandlungskosten für chronische Erkrankungen. Schaut man auf aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamtes, hat sich der Wunsch der Wissenschaft nicht erfüllt. 2006 lebten 14 % der Bevölkerung in (Einkommens-)Armut. 2022 mussten weiterhin 14,7 %, zwölf Millionen Menschen, in Deutschland mit weniger als 60 % des mittleren Einkommens (1250 Euro netto im Monat) auskommen. Knapp 21 % sind von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. In einer wohlhabenden Stadt wie München lebt jeder / jede Sechste unterhalb der Armutsgrenze.
Kinderarmut steigt
Auch ein Blick in die Sozialstatistik führt nicht zur Entwarnung. 2021 waren fünf Millionen auf staatliche Sozialleistungen wie Hartz IV und Grundsicherung angewiesen. 2023 stieg die Zahl der Empfänger des neuen Bürgergelds auf 5,5 Millionen, darunter 1,5 Millionen Kinder unter 15 Jahren. Vor allem der Anstieg der Kinderarmut gibt Anlass zur Sorge. Aber auch die Armut im Alter, die zur Jahrtausendwende als weitgehend überwunden galt, steigt wieder – von 11 % (2005) auf 17,5 % (2022).
Vor allem die Corona-Pandemie, die Energiepreisexplosion und die hohe Inflation haben die Probleme einkommensschwacher Haushalte verschärft. Finanziell prekäre Verhältnisse bedeuten aber nicht nur Einschränkungen beim täglichen Einkauf, beim Wohnen und bei der gesellschaftlichen Teilhabe, sondern, wie viele Untersuchungen in Deutschland seit einigen Jahren belegen, ein signifikant erhöhtes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko.
Von Armut Betroffene leiden deutlich häufiger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Adipositas und chronischen Erkrankungen.
Laut dem Diabetes-Atlas der BARMER erkranken Menschen in wirtschaftlich schwachen Regionen besonders häufig an Diabetes. Im brandenburgischen Ort Bad Belzig sind 13,5 % der Einwohner Diabetiker, in den Vierteln rund um die Hamburger Elbchaussee sind es lediglich 4,3 %. Der Forschungsverbund DIAB CORE kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Danach ist die Wahrscheinlichkeit, an Typ-2-Diabetes zu erkranken, in Regionen mit der höchsten strukturellen Benachteiligung doppelt so hoch wie in prosperierenden Regionen. Bei Adipositas liegt die Wahrscheinlichkeit sogar bei 30 %.
Lebenserwartung ist kürzer
Auch der Verlauf der Krankheit und das Sterberisiko sind von sozialen Faktoren abhängig. Nach Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) ist die Lebenserwartung von Männern, die einem Armutsrisiko ausgesetzt sind, im Vergleich zu ihren Geschlechtsgenossen mit höherem Einkommen um rund acht Jahre kürzer, die der Frauen um rund vier Jahre. Jeder vierte Mann mit niedrigem Einkommen erreicht nicht das 65. Lebensjahr.
Beeinträchtigungen sind bereits im Kindesalter nachweisbar.
In Bremen, dem Land mit der höchsten Kinderarmutsquote in Deutschland, ergaben die Schuleingangsuntersuchungen jüngst, dass der größere Teil der Kinder zwar immer gesünder aufwächst. Doch bei 40 % der Kinder aus sozial benachteiligten Wohnquartieren wurden erhebliche gesundheitliche Probleme diagnostiziert. Viele sind übergewichtig, weil es an einem ausgewogenen Essen fehlt; viele haben schlechte Zähne. In einer Schule mit eher sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern hatten insgesamt 62 % der Erstklässler Löcher in den Zähnen, Zahnfleischentzündungen oder Zahnstein. Ein Grund: Die Kontrolluntersuchungen bei Zahnärztin oder -arzt werden oft gar nicht wahrgenommen, wie die KiGGSStudie des RKI feststellt. Die Bilanz bei den Vorsorgeuntersuchungen sieht ähnlich aus: 29 % der Erstklässler aus einkommensschwachen Familien haben ein oder zwei Termine (U1 bis U9) verpasst. Nach den KiGGSDaten berichten Eltern mit niedrigem Sozialstatus zudem doppelt so häufig von einer ADHS-Diagnose ihres Kindes wie Eltern mit einem hohen Sozialstatus. Ob und inwieweit die soziale Lage Ursache für die Entstehung von ADHS ist, ist jedoch nicht geklärt.
Ungesunder Lebensstil, keine Vorbilder
Warum Armut krank macht, wird in der Wissenschaft heftig debattiert. Der Mainzer Mediziner Prof. Dr. Gerd Trabert, der sich seit vielen Jahren um Obdachlose kümmert, ist überzeugt, dass Menschen mit geringem Einkommen häufig weniger auf ihre Gesundheit achten und Krankheiten verschleppen. Warum Kinder ungesund aufwachsen, ist allerdings nicht nur eine Frage der finanziellen Verhältnisse. Die KiGGS-Studie betont, dass die Bildung und die berufliche Stellung der Eltern ebenso entscheidend sind. Je geringer der Schulabschluss und schlechter die berufliche Ausbildung, desto größer sei die Gefahr. Kinder, die eingebettet sind in ein Netz an Angeboten und Förderung, bewegen sich mehr, rauchen weniger und sind seltener übergewichtig.
Fehlt es also ›nur‹ an mehr Aufklärung, Anleitung und ›leuchtenden Beispielen‹, um auch mit einem kleinen Haushaltsbudget gesund zu leben?
Die Autoren der KiGGS-Studie empfehlen, mit Maßnahmen der Gesundheitsförderung und der Prävention bereits konsequent im Kindesalter zu beginnen und diese vor allem sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen zukommen zu lassen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sammelt seit 2001 in einer frei zugänglichen Datenbank Projekte und Angebote, die sich bundesweit der Gesundheitsförderung sozial Benachteiligter widmen – von Freizeit-Fit 4 Kids in Düsseldorf, das an Diabetes erkrankte Kinder und Jugendliche unterstützt, bis zum Kunstverein KaSo in Wismar, der versucht übers Kunsthandwerk Langzeitarbeitslosen psychosoziale Hilfe anzubieten. Die Vernetzung der Projekte sei eine der wichtigsten Aufgaben von Public Health, erklärte Prof. Dr. Martin Dietrich, bis vor wenigen Monaten kommissarischer BZgA-Direktor, auf dem jüngsten Kongress »Armut und Gesundheit«, der seit 28 Jahren regelmäßig stattfindet. Immer mehr Fachleute plädieren angesichts der Herausforderungen für eine Reform des 2015 beschlossenen Präventionsgesetzes.
Pläne für 1000 Gesundheitskioske
Das Bundesgesundheitsministerium hat reagiert. Minister Karl Lauterbach plant die bundesweite Gründung von rund 1000 Gesundheitskiosken in sozial benachteiligten Quartieren. Der erste Kiosk wurde 2017 als Modellprojekt von einem regionalen Ärztenetz und fünf gesetzlichen Krankenkassen in Hamburg- Billstedt eröffnet und fand seitdem viele Nachahmer. Ziel der Gesundheitskioske ist es, Patienten und Patientinnen aus schwierigen sozialen Verhältnissen niedrigschwellig zu unterstützen, Tipps für ein gesünderes Leben zu geben und überfüllte Arztpraxen zu entlasten. Trotz guter Noten für das Projekt waren drei Ersatzkassen in Hamburg vor zwei Jahren aus der Finanzierung ausgestiegen – vornehmlich aus Protest gegen Lauterbachs Ankündigung, die Kioske zur Regelversorgung zu machen.
Unbeeindruckt von der Kritik stellte der Minister im Sommer 2023 einen Referentenentwurf für sein Gesetz (zur Stärkung der Gesundheitsversorgung in der Kommune) zur Einführung der Gesundheitskioske vor, der allerdings aktuell überarbeitet wird. Ende Januar kündigte Michael Weller, Abteilungsleiter Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung im BMG, an, dass es künftig einen Rechtsanspruch auf dieses Versorgungsangebot für alle Menschen unabhängig von ihrem Versichertenstatus geben soll. Starttermin: Januar 2025.